Lebenschancen
Verunsicherungen auswirken. Auf einer sehr grundlegenden Ebene haben diese Krisen das Systemvertrauen in die Märkte und die Politik unterhöhlt. Vertrauen ist
nach Niklas Luhmann (1968) ein »Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität«. Weil es oft nicht möglich ist, in einer unüberschaubarer werdenden Welt alle Informationen zu haben und alle Zusammenhänge zu kennen, benötigen wir, um überhaupt handeln und entscheiden zu können, Vertrauen. Wer sich in ein Auto setzt, prüft nicht erst den Motor und die Elektronik, sondern vertraut darauf, dass schon alles funktionieren wird. Geht das Vertrauen in die Institutionen und die soziale Entwicklung verloren, breitet sich Unsicherheit aus, die Stabilität der Systeme wird weiter beschädigt.
Solche Ereignisse und Trends sind für eine Wohlstandsgesellschaft, die sich auf die Sicherheit von Einkommen und Vermögen verlässt, eine ernstzunehmende Bedrohung. Sie führen dem betroffenen Publikum überdeutlich vor Augen, wie instabil, ja geradezu fragil ganze Subsysteme werden können, auf deren Leistungen man sich zuvor verlassen hatte. Ein Gefühl der Sicherheit setzt immer Vertrauen voraus, aber Vertrauen ist prinzipiell riskant (Luhmann 1968). Wird Vertrauen enttäuscht, gibt es Dissonanzen zwischen Erwartungen und realen Entwicklungen, steigt der Pegel der Unsicherheit in der Gesellschaft schnell an.
Ein weiterer Aspekt scheint mir überaus wichtig zu sein, er wurde in der öffentlichen Diskussion bislang aber kaum thematisiert. Wir haben uns angewöhnt, den Wunsch nach Sicherheit als etwas Negatives zu sehen, als Gegenteil der positiv besetzten Risikofreude. Dabei haben Denker wie Adam Smith, der nicht gerade im Verdacht steht, den dynamischen Markt und seine Verteilungsprinzipien grundsätzlich infrage zu stellen, Sicherheitsorientierungen durchaus positiv bewertet. In seiner Theorie der ethischen Gefühle , einem Werk, ohne dessen Lektüre sein ungleich populäreres Buch Der Wohlstand der Nationen (1974 [1776]) kaum zu verstehen und einzuordnen ist, betrachtet Smith den Wunsch nach Sicherheit als wesentlichen gesellschaftlichen Stabilisator:
»Wir leiden […] mehr, wenn wir aus einer besseren in eine schlechtere Lebenslage herabsinken, als wir uns jemals freuen würden, wenn wir aus einer schlechteren in eine bessere aufsteigen. Darum ist Sicherheit das erste und hauptsächliche Ziel der Klugheit. Sie ist immer dagegen, daß wir unsere Gesundheit, unser Vermögen, unseren Rang oder unser Ansehen irgendeiner Art von Zufall oder Gefahr aussetzen. Sie ist eher behutsam als unternehmungslustig, sie ist eifriger darauf bedacht, uns die Vorteile zu erhalten, die wir bereits besitzen, als uns zum Erwerb neuer, noch größerer Vorteile anzuspornen. Die Wege, die sie uns in erster Linie empfiehlt, um unsere Lage zu verbessern, sind solche, die uns keinem Verlust oder Zufall aussetzen: wirkliches Wissen und Geschicklichkeit in unserem Gewerbe oder Beruf, Emsigkeit und Fleiß in dessen Ausübung, Sparsamkeit oder selbst eine gewisse Kargheit in allen unseren Ausgaben.« (Smith 1994 [1759]: 362)
Smith zählt alle Tugenden auf, die oft der Mittelschicht attestiert werden: Hasardeurhaftes Verhalten wird abgelehnt, man plant langfristig, anstatt auf das schnelle Geld zu setzen, ein solider Beruf wird als ökonomische Basis geschätzt, man konsumiert mit Augenmaß, anstatt sich der Verschwendung hinzugeben, dazu herrscht ein Ethos der Leistung. In diesem Kontext erscheint die Sicherheitsorientierung als wichtiger Schutz gegen impulsives und damit im Endeffekt schädliches Verhalten. Das Lob der Sicherheit, das Smith hier formuliert, kann auch als Lob der Mitte gelesen werden.
Wie so oft kommt es also auf die Balance an: Zu viel Sicherheit, aber auch zu große Unsicherheit können lähmen und einer Gesellschaft schaden. Gerade wenn wir verunsichert sind, neigen wir nicht unbedingt zu Risikofreude, Anpassungsbereitschaft und Wagemut, sondern zu Frust und Passivität. Wir brauchen ein sicheres Fundament, um unser Leben innerhalb gewisser Leitplanken gestalten und planen zu können. Wenn so getan wird, als hieße mehr Sicherheit im Sinne eines Nullsummenspiels automatisch weniger Risikofreude, so ist dies ein Zerrbild. Sicherheit dient nicht allein der passiven Selbstimmunisierung, sie ist
vielmehr eine entscheidende Voraussetzung für einen vernünftigen Umgang mit Risiken (Zapf et al. 1987). Nur wer darauf vertrauen kann, dass kurzfristiges Scheitern nicht das
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