Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
Vom Netzwerk:
Aussage »Es gibt kein Recht auf Faulheit« einläutete, gehört ebenfalls in diese Reihe der Pauschalverdächtigungen. Die Erregung vieler arbeitsloser Mittelschichtler ging auch darauf zurück, dass sie sich zu Unrecht am Pranger sahen. Fleiß und Betriebsamkeit sind schließlich genau die Werte, die diese Schicht so gern für sich reklamiert.
    Verunsicherungsdynamiken
    Ein »Ende der Mitte« ist heute nicht in Sicht. Noch immer liegt der Anteil der Menschen, die zur Mittelschicht gezählt werden können, in Deutschland auf einem auch im internationalen Vergleich hohen Niveau. Noch immer erfreut sich diese Schicht eines erheblichen Wohlstands und ertragreicher Sicherheit. »Die Gerüchte über meinen Tod sind stark übertrieben«, verkündete der amerikanische Schriftsteller Mark Twain einst nach einem zu früh veröffentlichten Nachruf. Auch die Mittelschicht hat das Zeitliche noch nicht gesegnet. Sie ist nicht gebrechlich, aber doch nicht so vital und voluminös wie noch vor 20 oder 30 Jahren. Veränderungen setzen ihr zu: Schrumpfungstendenzen, das Zurückbleiben hinter der Spitze, verstopfte Aufstiegskanäle, neue soziale Risiken, die Prekarisierung und die zunehmende Löchrigkeit des einstmals dicht geknüpften Sicherungsnetzes. Wachstum und neue Arbeitsplätze können diese Trends möglicherweise vorübergehend kompensieren, ihr Einfluss ist jedoch begrenzt, wenn man die Breite der Veränderungen bedenkt, denen die deutsche Gesellschaft sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegenüber
sieht. Manche sprechen ganz pauschal von der »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit« (Castel 2009) oder vom »great risk shift« (Hacker 2006). Über Jahrzehnte kam der Wind von hinten, die Mittelschicht stieg auf und wuchs, doch jetzt bläst er von vorn und von der Seite.

3. Statuspanik: Reale Gefahr oder falscher Alarm?
    Jüngst war zur besten Sendezeit immer wieder ein Werbespot des Versicherungskonzerns ERGO zu sehen, der viel über die Mentalität im Land verrät. Ein adretter junger Mann läuft in einer Lederjacke durch Berlin, steigt die Treppen zu seiner Wohnung hoch, lässt sich schließlich in einen Drehsessel fallen und spricht dabei folgende Sätze in die Kamera:

    »Versicherungen, was ist eigentlich schief gelaufen zwischen uns? Hab' ich irgendwas getan, dass ihr so komisch seid, so fremd? […] Ich finde mein Leben schon kompliziert genug, und wenn ihr es versichern wollt, wird daraus Weltraumforschung. […] Könnt ihr nicht einfach mal aufhören, mich zu verunsichern, und anfangen, mich zu versichern?«

    Mir ist nicht bekannt, ob der Spot massenhaft Kunden zur ERGO gelockt hat, er spielt allerdings sehr gekonnt mit den Ängsten und Verunsicherungen der Bevölkerung. Die Botschaft lautet: Das Leben ist kompliziert, man weiß nicht, was morgen sein wird. Risiken lauern überall, aber wir von der ERGO können Ihnen helfen. Wir befreien Sie von den Ängsten, die Sie drücken. Eine Sehnsucht, die viele teilen: Raus aus der Gefahrenzone, hinein ins sorgenfreie Leben. Doch das ist nicht so leicht zu haben, wie es die Werbung verspricht.
    Im letzten Kapitel ging es vor allem um langfristige gesellschaftliche Trends, die die soziale Position der Mittelschicht verändern. Nun wenden wir uns der mentalen Seite zu, fragen also danach, was die aufgezeigten Veränderungen für das Lebensgefühl und das Selbstbewusstsein der Mittelschicht bedeuten. Wir wissen, dass sich in den letzten Jahren die Wohlstandssorgen sowie die Ängste vor Sicherheitsverlusten geradezu epidemisch verbreitet haben. Der Frage, ob die wirtschaftliche Unsicherheit in den letzten zehn Jahren zugenommen habe, stimmen
laut einer neueren Umfrage drei Viertel aller Deutschen zu (Landmann 2012). Die Verunsicherung der Mittelschicht ist ein großes Thema, auch in der politischen Öffentlichkeit. Daher lohnt es sich zu untersuchen, wie sich objektive Veränderungen in subjektive Wahrnehmungen und Gefühlslagen übersetzen. Ausgehend von diesem engeren Thema der Verunsicherung der Mittelschicht will ich den Bogen aber weiter spannen. Es soll hier auch um die großen Themen Gerechtigkeit und Fairness gehen. Das Unbehagen breiter Mittelschichtgruppen ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Wirklichkeit immer mehr mit vorherrschenden Legitimitäts- und Gerechtigkeitsvorstellungen, also dem, was man mitunter als »Moralökonomie« (Mau 2004) bezeichnet, in Konflikt gerät. Ein wachsender Anteil der Bevölkerung beobachtet eine Diskrepanz zwischen

Weitere Kostenlose Bücher