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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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endgültig Aus und den Sturz ins Bodenlose bedeutet, ist bereit, etwas zu wagen.
    Statusängste und Wohlstandssorgen
    Wie steht es nun um die Mittelschicht? Wie positioniert sie sich im Kontext veränderter Parameter der Sicherheit? Dass die Mittelschicht eine besonders nervöse Gruppe ist, hat bereits Theodor Geiger angemerkt. Er sah in der Mittelschicht nicht das robuste Zentrum, als das wir sie heute gern betrachten, sondern eine potenzielle Gefährdungszone. 1930 veröffentlichte er einen kleinen, sehr interessanten Aufsatz mit dem Titel »Panik im Mittelstand«. Darin analysiert er sehr genau den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und mentaler Befindlichkeit. Typisch für diesen Stand sei, dass er sich aus sehr unterschiedlichen Elementen und Gruppen (etwa dem alten und dem neuen Mittelstand) zusammensetze und als Ganzes keinen festen und klar definierten Ort in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehme. Teile des alten Mittelstands, vor allem das Handwerk, würden durch die industrielle Produktion mehr und mehr an den Rand gedrängt. Der »ständische Boden« seiner Existenz sei nicht mehr gegeben, so dass diese Gruppen zu »ewig Unzufriedenen« würden (ebd.: 643). Aber auch den neuen Mittelstand, hier ging es ihm vor allem um die Angestellten, verstand Geiger als gefährdete Gruppe. Diejenigen, die aus der Arbeiterschaft in die Angestelltenschicht aufgestiegen seien, bemühten sich durch »ideologische Distanzierung und Überhöhung« den Abstand zu den Arbeitern künstlich zu vergrößern (ebd.: 467). Daneben existiere eine große Gruppe von Absteigern: jene aus dem alten Mittelstand, die in abhängige Lohnarbeit überwechseln mussten, zudem viele aus gebildeten und ehemals statushöheren Kreisen.

    »Das Kontingent der Deklassierten ist sehr viel größer, als man gemeinhin annimmt: verabschiedete Offiziere im Versicherungswesen und in ›Vertrauensposten‹, Abkömmlinge der sogenannten gebildeten Schichten, die aus irgendwelchen, meist wirtschaftlichen Gründen oder wegen Überfüllung der akademischen Berufe in den unteren oder mittleren Angestelltenkategorien untertauchen. Sie bringen die sozialen Rangansprüche einer einst sehr gehobenen Schicht mit und vertreten diese Ansprüche umso hartnäckiger, je weniger ihre derzeitige soziale und wirtschaftliche Stellung dem Geltungsbedürfnis genügt.« (1930: 646)

    Dementsprechend markiert Geiger den Mittelstand als Zone der ideologischen Verwirrung, denn es sind nicht die »großen Ströme des Zeitdenkens, von denen die Mittelstände sich fortreissen lassen. Es sind Sorgen und Lebensangst, die sie drücken.« (Ebd.: 648)
    Natürlich kann man die Weimarer Zeit nicht ohne Weiteres mit der Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts vergleichen. Die jüngste Wirtschaftskrise hat nicht zu massenhafter Verelendung geführt, und es droht auch keine Machtergreifung durch rechte Parteien. Geigers Analyse ist aber dennoch instruktiv, denn sie verweist auf die Spannung zwischen Status und Statusaspirationen. Seiner Ansicht nach ist in der Mittelschicht eine weitverbreitete und zum Verständnis der mentalen Lage wichtige »Angst vor Mindereinschätzung« (Geiger 1930: 646) vorhanden. Damit ist gemeint, dass Teile der Mittelschicht die Sorge umtreibt, in der gesellschaftlichen Rangordnung nicht den Status zu erhalten, der ihnen tatsächlich zusteht. Darüber hinaus deutet diese Formulierung auf eine weitverbreitete Statusunsicherheit hin, welche die Abstandssuche nach unten und die Anschlusssuche nach oben zur wichtigen Leitorientierung werden lässt.
    Bei Helmut Schelsky (1953), der die Bundesrepublik der Nachkriegszeit im Blick hatte, findet sich eine noch grundlegendere These. Er sah chronische Unsicherheit als typische Begleiterschei
nung einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« an, weil in einer solchen Gesellschaft von vornherein »kein Einwurzeln in einer beharrenden Position« möglich sei (ebd.: 230). Diese Gesellschaften seien, anders als Standesgesellschaften, statische Schichtgesellschaften oder ausgehärtete Klassengesellschaften, auf Mobilität, also Auf- und Abstiege, angelegt. Man kann sich seines Status eben nicht sicher sein. Diese Tendenz zur chronischen Unsicherheit wurde in der Vergangenheit nie so richtig sichtbar, weil institutionelle Vorkehrungen im Bereich sozialer Sicherung, professionelle Schließungen und die Statussicherung durch Qualifikation dies verhinderten. Vor allem aber hat die kollektive Aufwärtsbewegung in der langen

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