Lebenschancen
Alter zu, doch auch bei den unter 30-Jährigen würden sich 68 Prozent lieber mit bescheidenem Wohlstand begnügen, während sich lediglich 17 Prozent als eher risikofreudig beschreiben. Vielen gilt dabei insbesondere die Mittelschicht als Hort der Unsicherheitsaversion: gesichert, gesättigt – und dennoch in der ständigen Angst vor den Gefahren des normalen Lebens. Eine solche Lesart der mentalen Verfassung unserer Wohlstandsgesellschaft bietet beispielsweise Peter Sloterdijk an:
»Daß gewisse Einschnitte gleich als apokalyptische Rückschläge empfunden werden, beweist nur, wie sehr man als Bewohner des Wohlstandstreibhauses mit einer automatischen Zuwachserwartung ausgestattet war. Wenn dann einmal das Wachstum ausbleibt, entwickeln Zahllose das Gefühl, bitter zu verarmen. So ruft man unter der bestversorgten Population der Menschheitsgeschichte über Nacht archaische Mangelphantasien hervor.« (2010: 60 f.)
Das kann man getrost als Übertreibung ansehen. Es gibt aber durchaus Anhaltspunkte dafür, dass es Teilen der Mittelschicht besser geht, als sie es selbst wahrnehmen (Enste et al. 2011; Lengfeld/Hirschle 2009). Wohlstandssorgen und Abstiegsängste sind auch bei Gruppen festzustellen, die nach objektiven Kriterien weder als ungesichert noch als prekär gelten können (Böhnke 2005: 36). Die Mittelschicht scheint fast seismografisch auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, wobei bereits kleine und kleinste tektonische Verschiebungen zu großen Unsicherheitsgefühlen führen.
Angesichts solcher Befunde ist es also durchaus denkbar, dass subjektives Empfinden und objektive Situation auseinandertreten, allerdings sollte man dies nicht unbedingt im Sinne einer sozialpathologischen Risikoaversion interpretieren. Vermutlich steckt mehr hinter dieser gefühlten Verunsicherung. Erstens zeigt sich im Vergleich zwischen Gruppen und Gesellschaften, dass diejenigen, die größeren Risiken ausgesetzt sind, tatsächlich größere Unsicherheit empfinden (und nicht diejenigen, die am Gesichertsten sind) (Erlinghagen 2008; Mau et al. 2011). Zweitens : Dass Menschen sich aufgrund historischer Erfahrungen an ein bestimmtes Sicherheitsniveau gewöhnen, ist ein ganz normaler Prozess. Dass sie nervös werden, wenn sich dieses Niveau nicht mehr ohne Weiteres gewährleisten lässt, letztlich ebenfalls. Drittens sind auch prinzipiell gesicherte Gruppen von (gesellschaftlichen, marktlichen, unternehmerischen etc.) Restrukturierungen und Flexibilisierungszumutungen betroffen, so dass sie sich ihres Status nie ganz sicher sein können (Hürtgen 2008). Diag
nosen zur übersteigerten Verunsicherung der Mittelschicht weisen einen weiteren blinden Fleck auf: Sie betrachten den Zusammenhang zwischen objektiven Daten und subjektiver Wahrnehmung vor allem retrospektiv oder in Bezug auf die Gegenwart. Sie schauen also, wie es Menschen ging oder geht, und vergleichen diese Daten dann mit den geäußerten Sorgen. Dieser Zusammenhang ist jedoch oft nicht sonderlich stark, denn Unsicherheit und damit verbundene Sorgen speisen sich in erster Linie aus Zukunftserwartungen, es sind also Mutmaßungen über die Zukunft. Nicht was war verunsichert, sondern was noch kommen könnte . Allerdings sind pessimistische Zukunftserwartungen oftmals nicht ganz so erratisch, wie man auf den ersten Blick meinen mag. So hat sich beispielsweise herausgestellt, dass die Befürchtung einer Person, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, einen recht guten Prädiktor dafür darstellt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt wirklich ihren Job verliert. Die subjektive Erwartung ist hier aufschlussreicher als bestimmte objektive Indikatoren (Stephens 2004).
Wir müssen dabei auch bedenken, dass sich »gefühlte Unsicherheit« auf ein ganzes Bündel allgemeiner Faktoren und sich wandelnde Rahmenbedingungen bezieht. So mag das Rentenniveau (noch) relativ stabil sein, dennoch breitet sich die Verunsicherung aus, weil das Grundvertrauen in das System erschüttert wurde (Statistisches Bundesamt 2008: 293). Nur eine Minderheit scheint beispielsweise noch daran zu glauben, dass die gesetzliche Rentenversicherung den gewohnten Versorgungsstandard auch in Zukunft wird garantieren können. Norbert Blüm hat mit seinem Mantra »Die Rente ist sicher« letztlich das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich wollte. Noch schwerwiegender dürften sich die von den Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten und der Verschuldung der öffentlichen Haushalte ausgehenden
Weitere Kostenlose Bücher