Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
Vom Netzwerk:
weithin akzeptierten Normen der Gerechtigkeit und den heutzutage herrschenden Spielregeln der gesellschaftlichen Verteilung von Privilegien, Positionen und Gütern. Wenn das Gerechtigkeitsempfinden Alarm schlägt, geht es um die Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt, nicht nur um individuelle Sicherheitsverluste.
    Das Sicherheitsparadox
    Zunächst stellt sich die Frage, warum sich das Gefühl der Unsicherheit in der Mittelschicht so stark verbreitet hat. Handelt es sich dabei um eine unmittelbare Reaktion auf tatsächliche Sicherheitseinbußen oder um eine »inszenierte Mittelschichtspanik« (Jürgen Kaube), letztlich also eine Art Überreaktion? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach, denn das Verhältnis zwischen objektiver Sicherheit und subjektivem Sicherheitsempfinden ist komplex. Gefühle der Sicherheit lassen sich nur bedingt aus handfesten Parametern ableiten, sie sind immer auch abhängig von Wahrnehmungen, Einstellungen und
Mentalitäten, die sich über die Zeit herausgebildet haben (Mau 1998). Dass subjektive Wahrnehmung und objektive Situation nicht unbedingt übereinstimmen müssen, sagt uns schon unsere Alltagserfahrung. Wir alle kennen Menschen, denen es leichter zu fallen scheint, über Drahtseile zu balancieren und dabei die Fallhöhe zu ignorieren, und andere, die sich auf ein solches Wagnis nicht einlassen würden. Es gibt diejenigen, die sich mit Lebensversicherungen und Zusatzrenten eingedeckt haben, um gegen alle Unwägbarkeiten gewappnet zu sein; andere haben jahrelang keine Krankenversicherung und keinen festen Job, ohne dass ihnen dies schlaflose Nächte bereiten würde.
    Man kann Sicherheitsbedürfnisse also nur vor dem Hintergrund sozialer Erfahrungen sowie daraus abgeleiteter Erwartungen und Hoffnungen beurteilen. Sicherheit gilt vielfach als Programm ohne Endpunkt, dass heißt, dass wir niemals den Zustand erreichen werden, in dem es genug Sicherheit gibt. François Ewald, ein französischer Sozialtheoretiker und Schüler Michel Foucaults, schreibt dazu: »Anstatt die Ruhe des Wohlstands zu ermöglichen, ist das moderne Wachstum des Reichtums vielmehr durch ein größeres Sicherheitsbedürfnis gekennzeichnet. […] Das Bedürfnis nach Sicherheit erscheint aus seiner Befriedigung zu erwachsen.« (1993: 15; kritisch dazu van Dyk/Lessenich 2008) Da die Erwartungen sich permanent an die vorhandenen Standards anpassen, kann man sie im Grunde nie vollständig erfüllen. Wenn das Niveau der Sicherheit nun unter das gewohnte Level sinkt, werden die Menschen nervös: In der Literatur ist an dieser Stelle vom Risikoparadox die Rede: »[E]in Mehr an Außengaranten der Sicherheit kann […] offenbar dazu führen, daß verbleibende oder neu hinzukommende Unsicherheiten weniger toleriert werden.« (Evers/Nowotny 1987: 61)
    Übermäßige Sicherheitsbedürfnisse können eine Gesellschaft auch lähmen. Es ist durchaus denkbar, dass der Umgang mit Risiken und Unsicherheiten sozusagen »verlernt« wird und dass prinzipiell nachvollziehbare Sicherheitsorientierungen sich in
Bewahrungs- oder Antiveränderungsimpulse verwandeln. Auf diesem Weg können sklerotische, ja eingepanzerte Gesellschaften entstehen, ängstlich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange. Herfried Münkler nennt den Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa als Beispiel für das Scheitern solch angstbesetzter Gesellschaften:

    »Die realsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas sind – auch – deswegen kollabiert, weil sie vor lauter Sicherheitsapparatur und Sicherungsversprechen jegliche Flexibilität und Reaktionsfähigkeit eingebüßt hatten. Das Innere dieser Gesellschaften ist vom Übergewicht der Sicherheitseinrichtungen erdrückt worden. […] Übermäßiges Sicherheitsbedürfnis lässt Gesellschaften beschleunigt altern. Sie verlieren den Anschluss an die Entwicklung.« (2011)

    Risikokompetenz und -bereitschaft sind daher immer auch eine Art gesellschaftlicher Jungbrunnen und Garanten für dynamische Entwicklungen.
    Einige empirische Befunde sprechen dafür, dass das Sicherheitsbedürfnis heute vergleichsweise stark ausgeprägt ist: In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach gaben 79 Prozent der Befragten an, dass es ihnen lieber wäre, ein sicheres Leben in bescheidenem Wohlstand zu führen als ein Leben mit vielen Risiken, aber großen Chancen (10 Prozent) ( Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung , 10. April 2011, S. 33). Diese Sicherheitsfixierung nimmt mit dem

Weitere Kostenlose Bücher