Lebenschancen
Phase von Wachstums- und Wohlstandsgewinnen das Moment der »Statuslabilität« überlagert (ebd.: 230).
Die Auslöser für Abstiege können heutzutage vielfältig sein: Konkurs des Arbeitgebers, Sportunfall, Wohnungseinbruch, Alkohol, Hochwasser, Burn-out, Seitensprung, ein insolventer Immobilienfond, Mobbing im Internet. Von Angehörigen der Mittelschicht werden Abstiege in die Armutszone als dramatisch empfunden, sie führen zu massiven Einbrüchen ihres subjektiven Wohlbefindens (Böhnke 2010). Zwar haben es Mittelschichtangehörige leichter, aus der Armut wieder herauszukommen, weil sie über bessere Bildung und Netzwerke verfügen, aber ihre Orientierung auf Wohlstand und Sicherheit lässt sie mögliche Armutsphasen als besonders belastend erleben.
Wohlstandssorgen gibt es aber nicht nur bei denen, die tatsächlich erhöhten Risiken ausgesetzt sind. Im Sinne der oben angesprochenen Unsicherheitssensibilität verweisen einige Autoren darauf, dass die Irritationen und Ängste in Teilen der Mittelschicht auf einen Spill-over-Effekt zurückzuführen sein könnten. Das bedeutet, dass die Sorge um die eigene materielle Sicherheit und Positionierung von den unteren Schichten auf die Mittelschicht überschwappt (Lengfeld/Hirschle 2009: 382). Heinz Bude suggeriert, dass die Beobachtung von Verarmungs
tendenzen vor allem auch bei denen Ängste schürt, die es nicht unmittelbar betrifft: »Wenn die ›bedrohte Arbeitnehmermitte‹ etwas von Verarmung und Ausschlusstendenzen hört, fühlt sie sich zuerst selbst angesprochen. Von anderen, die wirklich bedroht sind und die auf einem schmalen Grat wandeln, will dieser Teil der Mitte nichts wissen.« (2008: 46 f.) Man könnte es auch so sehen: Statuspanik entsteht natürlich vor allem bei denen, die etwas zu verlieren haben. Im eigenen Beobachtungshorizont erleben sich Teile der Mittelschicht gerade deswegen als bedroht, weil sie einen Status, das heißt einen gehobenen Lebensstandard und ein gesichertes Auskommen besitzen. Ihre Verlustängste sind Ausdruck eines vorhandenen Wohlstands und der offenen Frage, wie es damit in Zukunft aussehen wird. Wie wir in einer Studie herausgefunden haben, handelt es sich in der Regel um Verlustängste, die sich auf langfristige Wohlstandseinbußen beziehen (Wie wird es den eigenen Kindern gehen? Kann ich meinen Lebensstandard im Alter halten?), weniger um akute Sorgen wie jene, im nächsten Monat die Miete nicht mehr bezahlen zu können (Schöneck et al. 2011).
Für die Befindlichkeit der Mitte ist natürlich auch der Prozess der Mittelschichtschrumpfung von Bedeutung. Jeder ahnt, dass die Schrumpfung des Mittelschichtbauchs kein Gesundungsprozess ist. Es geht nicht um eine überfällige Diät, um wieder eine Badehosen- oder Bikinifigur zu bekommen. In unseren Interviews zum Thema soziale Gerechtigkeit in Deutschland war das ein wiederkehrendes Thema. Zwei unserer Interviewpartner äußerten sich diesbezüglich wie folgt: »Ich denke, die Mittelschicht schwindet immer mehr. […] [D]ie Mittelschicht verschwindet nicht nach oben, sondern nach unten. Die stürzen alle ab«, meint eine 50-jährige Bauingenieurin aus Köln. Ein leitender Angestellter eines Verbandes gibt zu Protokoll: »Die Vermögensmillionäre nehmen immer mehr zu, und unten steigen gleichzeitig die Zahlen der Sozial- und Transferleistungsabhängigen. Dieser Teil wird immer breiter und geht in die Mittel
schicht rein. Aber gleichzeitig wird es oben auch noch mehr, und das geht auch von der Mittelschicht weg.« Das Schrumpfen der Mitte ist nicht zuletzt durch die Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ( DIW ) zum öffentlichen und politischen Thema geworden. Was die Daten belegen, findet sich auch in den Erfahrungs- und Wahrnehmungswelten der von uns befragten Mittelschichtler.
Zugleich wird auch in Deutschland bemerkt, dass in anderen Regionen neue Mittelschichten im Entstehen sind. Ich habe es bereits angesprochen: Mit dem rasanten Aufholen von Ländern wie Indien, China oder Brasilien verbindet sich die Entstehung einer zahlenmäßig starken Mittelschicht außerhalb der OECD -Welt. Bald kann Europa kein Alleinstellungsmerkmal mehr für sich reklamieren, wenn es um die wichtige sozialstrukturelle Rolle der Mitte geht. Solcherart »schwindende Unterschiede« (Miegel 2005: 80) können das eigene Selbstbewusstsein und das Gefühl der Uneinholbarkeit deutlich schwächen. Diese Länder mögen noch weit von einem Zustand entfernt sein, in dem die Mehrheit
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