Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
Vom Netzwerk:
Sarrazin, langjähriges SPD -Mitglied und von 2002 bis April 2009 Finanzsenator der Bundeshauptstadt, der Kulturzeitschrift Lettre International (Heft 86) ein Interview. Darin sagte er zum Thema Integration: »Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« Eine solch öffentliche Ablehnung von Zuwanderergruppen durch einen Sozialdemokraten hatte man bisher nicht vernommen, und entsprechend groß war die öffentliche Erregung. Reden und Widerreden schaukelten sich über Wochen hoch. Das Buch, in dem Sarrazin dann kurze Zeit später (2010) seine Thesen zu Bildung und Migration mit fehlerhafter Empirie und biologistischen Annahmen unterlegte, verkaufte sich über eine Million Mal. Nach Lesungen standen die Menschen vor den Büchertischen Schlange, im Internet erfuhr Sarrazin große Zustimmung, und bei öffentlichen Diskussionen brüllte das aufgebrachte Publikum Kritiker und Zweifler nieder.
    Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der LMU München, der Thilo Sarrazin im Rahmen einer Veranstaltung im Münchner Literaturhaus kritisierte, zeigte sich hinterher überrascht darüber, wie rüde das bürgerlich-distinguierte Publikum auf seine Einwände reagiert hatte. Sarrazins Erfolg, und zwar gerade bei der bürgerlichen Mitte, interpretiert er wie folgt: Sarrazin verstehe es, »Ressentiment in eine Form zu bringen, die wie Sorge klingt«. In einer Welt, die immer komplexer und unüberschaubarer wirke und in der alle permanent um Ressourcen, Chancen und Werte konkurrierten, werde es für die Menschen immer schwieriger, ein konkretes Gegenüber zu identifizieren:

    »Der Konkurrent wird ein abstrakter und unsichtbarer Konkurrent – unsichtbar unter anderem deswegen, weil die Menschen nur noch in Ausschnitten ihrer Persönlichkeiten miteinander konkurrieren, nicht mehr als Exemplare von eindeutigen Gruppen, Klassen und Milieus. Der Konkurrent um Ausbildung, Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit, sogar um intime Zuneigung und soziale Anerkennung ist letztlich nur noch eine statistisch wahrnehmbare Größe, ein Konglomerat ähnlicher Merkmale. Konkurrenten werden gewissermaßen digitalisiert – sie treten nicht mehr als ›analoge‹ pralle Formen auf, nicht mehr als soziale Gruppen, sondern als statistische Gruppen. Damit werden auch Verantwortliche und Schuldige immer weniger adressierbar und identifizierbar.« (Nassehi 2010)

    Wenn die Verhältnisse unübersichtlich, ja bedrohlich erscheinen, dann werden gesellschaftliche Probleme oft an leicht identifizierbaren und klar abgrenzbaren Gruppen festgemacht: Konflikte brechen auf, Desintegration droht. Das führt uns zum nächsten Thema, dem Verhältnis der Mittelschicht zur Solidarität mit dem Rest der Gesellschaft.
    Wir haben im vorangegangenen Kapitel – sozusagen aus der Ameisenperspektive – die Klimmzüge betrachtet, welche die Angehörigen der Mittelschicht unternehmen, um ihren Status zu erhalten und Unsicherheiten zu bewältigen. In diesem Kapitel richten wir die Aufmerksamkeit nun auf Fragen des sozialen Zusammenhalts, es geht also um das gesellschaftliche Ganze, um Solidaritätsressourcen und ihre Veränderungen über die Zeit. Die Mittelschicht spielt dabei eine zentrale Rolle: Solange die Mitte für Ausgleich und Toleranz steht, ist es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht schlecht bestellt. Wir müssen jedoch fragen, was passiert, wenn der Druck auf die Mitte zunimmt und es allmählich ungemütlich wird? Kommt es dann angesichts bedrohter Statusansprüche, wachsender Unsicherheit und stärkerem Wettbewerb zu einer »Verwilderung des sozialen Konflikts« (Honneth 2011)? Beobachten wir eine forcierte Selbstverteidigung der Mitte, also eher ein Gegen- als ein Mit
einander im Verhältnis zu anderen Gruppen und Schichten? Kurz: Kann man die Unterstützung für Sarrazin tatsächlich als Symptom einer wachsenden Verunsicherung begreifen?
    Pegelstände der Solidarität
    Solidarität gilt als der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Moderne Gesellschaften sind komplexe Gebilde, kaum zu vergleichen mit einer dörflichen Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt. Dort erwächst Solidarität aus sozialer Nähe und gemeinsamen Erfahrungen. Sie ist kleinräumig und begrenzt. Nicht von ungefähr haben es Fremde oft schwer, sich in solchen Mikrogemeinschaften zu verankern und Anerkennung zu finden. In großen Gesellschaften

Weitere Kostenlose Bücher