Lebenschancen
ist Solidarität nicht mehr über eine solche Art der Vertrautheit herstellbar. Sie funktionieren als »vorgestellte Gemeinschaften« (Anderson 1983), die vor allem durch die Zugehörigkeitsvorstellungen ihrer Mitglieder konstituiert werden. Zwar ist die Zugehörigkeit zu einer Nation im Grunde ein rechtlicher Status, sie geht allerdings weit darüber hinaus, weil auch eine gemeinsame (wie auch immer verstandene und konstruierte) Kultur, historische Erfahrungen oder politische Identitäten eine Rolle spielen. Erst dadurch sind Nationalgesellschaften in der Lage gewesen, Solidarität und belastbare Beziehungen der wechselseitigen Verpflichtung auszubilden (Mau 2002). Der Nationalstaat gilt vielen nicht umsonst als der größte historisch bekannte Sozialverband, der seinen Mitgliedern Umverteilungs- und Solidaritätsopfer auferlegen kann (Offe 1998).
Es gibt einen sehr grundlegenden Diskurs über den Verlust des Gemeinsinns und das Schwinden der Solidarität in modernen Gesellschaften. Robert Putnam, Harvard-Professor und ehemaliger Berater Bill Clintons, hat besonders öffentlichkeitswirksam auf solche Erosionstendenzen in westlichen Industrienationen hingewiesen. Zentral ist bei ihm der Begriff des »So
zialkapitals«, worunter er Vertrauen, die Orientierung an Gemeinschaftswerten und die Dichte sowie Reichweite sozialer Netzwerke (z. B. Vereinsmitgliedschaften) fasst. In dem Aufsatz »Bowling alone« (1995, er erschien dann 2000 in Buchform) illustriert er seine These vom Verlust der Gemeinschaft am Beispiel Bowling. Zwar spielen heute mehr Amerikaner Bowling als früher, sie tun dies allerdings immer seltener in Vereinen. Gerade in dieser Form der sportlichen Aktivität erkennt Putnam jedoch eine wichtige Ressource der Gemeinschaftlichkeit: Im Vereinsteam wird nicht nur gekegelt, man spricht über Alltagsprobleme, tauscht sich über lokale Angelegenheiten und die Nachbarn aus, so entstehen Vertrauen und Solidarität. Einzelspieler haben diese Einbettung nicht. Sie spielen vor allem, um zu gewinnen, nicht um andere zu treffen oder um Teil einer Gemeinschaft zu sein (außerdem konsumieren sie nachweislich weniger Bier und Pizza, was für die Bowlingbahnbetreiber ein Problem darstellt).
Putnams Studie fand auch unter deutschen Wissenschaftlern ein Echo, vergleichbare Untersuchungen hierzulande kamen aber nicht zu eindeutigen Ergebnissen (Helmbrecht 2005; Offe/Fuchs 2001). Zwar laufen traditionellen Solidaritätsakteuren wie Gewerkschaften, Parteien und Kirchen die Mitglieder weg, dennoch muss man die These vom Verfall der Gemeinschaftlichkeit differenziert betrachten: So engagieren sich zwar beispielsweise immer mehr Menschen bürgerschaftlich und in Ehrenämtern (Alscher et al. 2009), zu beobachten ist allerdings ein Trend zu kurzfristigen, eher situativen Formen der Beteiligung, die sich an bestimmte Anlässe knüpfen und lediglich für einige Wochen oder Monate aufflackern. Vielfach kommt es dabei auch zu einer Verkürzung der Reichweite bzw. einer Partikularisierung von Solidarität: Man interessiert sich für die Kindergärten und Schulen, die die eigenen Kinder besuchen, oder für lokale Bürgerinitiativen. Natürlich gibt es aber auch die Bereitschaft, für Menschen in weit entfernten Katastrophenregionen zu spen
den oder sich über amnesty international für Menschenrechte einzusetzen. Hauke Brunkhorst spricht hier von »Solidarität unter Fremden« (Brunkhorst 1997), bei der unmittelbare eigene Interessen transzendiert werden.
Bei all diesen Beispielen handelt es sich um freiwillige Formen des Engagements. Die wichtigste Solidaritätsmaschine ist aber nach wie vor der umverteilende, kompensierende und risikominimierende Sozialstaat. Steuern und Sozialabgaben müssen geleistet werden, allerdings funktionieren die entsprechenden Institutionen nicht, wenn die Menschen sie mehrheitlich ablehnen. In Umfragen zeigt sich dabei immer wieder, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den solidarischen Sozialstaat unterstützt (Mau 2003). Die Menschen wollen keinesfalls in einer von krasser Ungleichheit, von Segregation und Konflikten zwischen oben und unten geprägten Gesellschaft leben, sondern in einer Gesellschaft des sozialen Ausgleichs.
Konflikte der Solidarität
Angesichts dieser Befunde scheint die Solidarität in der Gesellschaft durchaus auf einem stabilen Fundament zu stehen. Wir bewegen uns hier allerdings an der Oberfläche. Gräbt man tiefer, erkennt man, dass es im Untergrund zu tektonischen
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