Lebenschancen
(gerade in der Peripherie) hat das oft dramatische Konsequenzen: Überalterung, ein hoher Anteil von Transferempfängern und eine insgesamt schrumpfende Bevölkerung sind langfristig die Folgen, wenn vor allem die Jungen und Qualifizierten abwandern. Mittelfristig könnte es dadurch auch zur Entstehung einer ganz neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie kommen (Mau 2007; Kriesi/Grande 2004): Auf der einen Seite stünden dann die Hochgebildeten und Mobilen mit »transnationalen Kompetenzen« wie Sprachkenntnissen und der Offenheit für neue kulturelle Begegnungen und Kontexte (Koehn/Rosenau 2002), auf der anderen die an die Herkunftsregion »gefesselten« »Verlierer«. Während die mobilen Eliten die Transnationalisierung unserer Welt als Chance begreifen, setzen letztere möglicherweise auf Pro
tektionismus und Abschließung, um sich gegen die neuen Unsicherheiten abzuschotten.
Optimierungsprobleme
Wir haben in diesem Kapitel ein ganzes Panorama von Sozialtechniken besichtigt, die als Coping-Strategien zur Bewältigung von Unsicherheit und zur Statusbehauptung verstanden werden können. Offensichtlich gibt es, angetrieben von sehr komplexen gesellschaftlichen Veränderungen, erhöhte Flexibilisierungs- und Orientierungsanforderungen, die Menschen sind gezwungen, mit Instabilität und »neuer Unübersichtlichkeit« umzugehen. Dies verlangt ein Mehr an kognitiver Aufnahmefähigkeit und die Kompetenz, mit unübersichtlichen Kontexten umzugehen. Es gibt hier einerseits wachsende Zumutungen, was die biografische Selbststeuerung anbelangt, andererseits eine große »Fehleranfälligkeit des sozialen Handelns« (Schimank 2002: 258). Und das macht die ganze Sache so kompliziert. Dramatische und akute Krisen lassen einem oft keine Wahl. Man weiß intuitiv, was zu tun ist, schaut kaum nach links oder nach rechts. Bei latenten und andauernden Unsicherheiten ist das anders. Sie stellen Menschen vor Optimierungsprobleme: Was ist die richtige Wahl? Welches Studienfach, welcher Job? Welcher Partner? Jetzt ein Kind oder besser später? Welche Vorsorgestrategie? Und wie bringt man die unterschiedlichen Anforderungen und Verpflichtungen in den Lebensbereichen Arbeit, Familie und Freizeit zusammen? Unübersichtliche Entscheidungssituationen können sozialen Stress verursachen. Plötzlich sieht man sich einer Vielzahl von Optionen gegenüber. Man muss sich nicht nur entscheiden, man muss dies auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lebensziele und ungewisser Erträge tun. Viele bleiben im »Wartesaal der Möglichkeiten« (Lommel 2011) sitzen, gerade weil die Zukunft unsicher ist und man nicht genau
wissen kann, welches die richtige Entscheidung ist. Bei anderen dominiert das planerische Kalkül. Sie versuchen, Unsicherheit zu vermeiden oder zu minimieren, indem sie sich sehr strategisch ausrichten. Ob Hobby, Alterssicherung, Partner oder Job – alles kann zum Projekt der Selbstbehauptung werden. Doch auch hier ist das Scheitern keineswegs ausgeschlossen.
Die Mittelschicht findet sich derzeit in genau dieser Gemengelage wieder. Sie muss erkennen, dass Status und Sicherheit nicht automatisch gegeben sind, sondern dass vielerlei Anstrengungen unternommen werden müssen, um beides auf Dauer zu verteidigen. Einen Aufstiegsautomatismus für ganze Teilkollektive gibt es nicht mehr. Wer sich heute behaupten will, muss selbst aktiv werden, darf sich nur wenige Fehler erlauben, braucht oft einen langen Atem und muss prekäre Passagen überstehen. Der Wettbewerb gewinnt im Rahmen des sozialen Umgangs immer mehr an Durchschlagskraft, die Konkurrenz um den Zugang zu Lebenschancen wächst, und manch eine Unterlegenheitserfahrung, die früher undenkbar erschien, muss verdaut werden. Privilegien bröckeln, gleichzeitig bauen sich neue Besitzstände auf. Überzogenes Leistungsdiktat, Gewinnertum und die Privatisierung von Risiken haben im Rahmen des neoliberalen Strukturwandels Auftrieb erhalten und fordern etablierte Sicherheitsmuster heraus. Die soziale Gegenwehr findet auf Märkten, in Klassenzimmern und auf den Fluren der Sozialbürokratie statt, erfasst jedoch zunehmend auch den privaten Bereich, greift über auf Wohnzimmer, Kleingärten und Bolzplätze. Es sind weniger die großen klassenbasierten Konflikte, welche die Gesellschaft heute prägen, als vielmehr »Mikrokonfrontationen«, bei denen es um Interessen, Ansprüche und Sicherheitsbedürfnisse geht.
5. Neue Kälte in der Mitte?
Es begann mit einem Paukenschlag: 2009 gab Thilo
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