Lebenschancen
Geldverschlinger, der ehemalige FDP -Generalsekretär Christian Lindner bezeichnete ihn als »teuren Schwächling«. In ganz Europa haben politische Parteien in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten ihre Programme entsprechend neu justiert.
Spätestens seit Anthony Giddens, Tony Blairs sozialpolitischer Vordenker und ehemaliger Direktor der London School of Economics ( LSE ), einen Dritten Weg zwischen Umverteilungsstaat und Marktliberalismus skizzierte (1998), ist es auch im sozialdemokratischen Lager möglich, Less-is-more -Vorstellungen, also der Idee vom schlanken Staat, der mit weniger Mitteln mehr erreicht, freien Lauf zu lassen. Giddens ging es allerdings um eine reformierte und globalisierungskompatible Weiterführung des Wohlfahrtsstaates, also um eine Modernisierung sozialdemokratischer Ideen, wobei er seinen Anspruch überhöhte und gleich von einer Politik »jenseits von rechts und links« sprach.
Die eigentliche Herausforderung, der Giddens sich annahm, war die Entwicklung einer Wohlfahrtsstaatsidee, die die Mittelschichten nicht überfordert und an ihr Leistungsethos anschließt. Um die politische Mitte zu gewinnen, stufte er das sozialdemokratische Gleichheitsziel in seiner Prioritätenrangliste zurück. Peter Mandelson, ein maßgeblicher programmatischer Kopf der Blair-Regierung, sagte einmal: »Wir, die Labour Party, sind zunehmend entspannt, wenn Leute stinkreich werden, solange sie ihre Steuern bezahlen.« Giddens empfahl einen aktivierenden Sozialstaat, welcher auf dem Postulat »Keine Leistung ohne Gegenleistung« aufsitzt und die Pflichten von Leistungsempfängern betont. Er adoptierte das eigentlich liberale Vokabular der Eigenverantwortung und der Hilfe zur Selbsthilfe und färbte es sozialdemokratisch ein. Der moderne Sozialstaat sollte so umgestaltet werden, dass er den Menschen Anreize bietet, sich anzustrengen, um möglichst schnell wieder auf den eigenen Beinen (d. h. im Arbeitsmarkt) zu stehen und ihre Potenziale voll auszuschöpfen. Auch die Skepsis gegenüber einer verwaltenden Sozialbürokratie ließ sich als an die breite Mittelschicht gerichtete Werbekampagne verstehen (wobei dem Dritten Weg selbst ein gewisses autoritär-bürokratisches Moment anhaftete; siehe Dahrendorf 1999). In seiner Regierungserklärung zur zweiten Amtszeit wählte Gerhard Schröder im Oktober 2002 mar
kige Worte: »Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat, der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwingen will, ist nicht nur unbezahlbar. Er ist am Ende auch ineffizient und inhuman.« Die vom Staat organisierte, obligatorische Solidarität gefährdet in dieser Konzeption nun plötzlich die Emanzipation und Selbstbestimmung der Menschen, die sich die Sozialdemokraten traditionell auf die Fahnen geschrieben hatten (Blair/Schröder 1999).
Diese Versuche einer Neuformulierung des sozialdemokratischen Programmangebots sind leicht zu desavouieren, und genau das haben traditionell orientierte und gewerkschaftsnahe Sozialdemokraten ja auch getan. Darüber hinaus hat diese inhaltliche Wende hierzulande auch die Entstehung der Partei Die Linke mit befördert. Ein politisches Angebot an die Mitte, das Überforderungsrisiken minimieren will und Entlastungswünsche bedient, birgt immer auch die Gefahr, die Bedürfnisse der Menschen am Rand zu vernachlässigen. Die Bemühungen um eine Neuprofilierung sozialstaatlicher Intervention sind bis heute nicht abgeschlossen, allerdings hat sich der Tenor verschoben. In jüngster Zeit ist die Umverteilungsfrage wieder stärker in den Vordergrund gerückt, und es werden Wege diskutiert, um die Gewinner des Marktes stärker in die Pflicht zu nehmen. Es geht um die Ressourcen und den Zuschnitt der Solidarität in einer individualisierten und verunsicherten Gesellschaft. Wie stark ist die Gemeinschaftsverpflichtung, welche sich die Bürger auferlegen lassen? Welche Solidaritätszumutungen halten sie aus? Wo sind die Grenzen ihrer Solidarität?
Entfremdungen
Ganz generell stellt sich heute die Frage nach der Fähigkeit der Politik, umfassende Solidaritätsverpflichtungen gesellschaftlich zu verankern. Sind wirtschaftliche Interessen, insbesondere die
großer multinationaler Unternehmen, »gemeinwohlfähig« oder droht eine immer größere Divergenz zwischen ihren unternehmerischen Zielen und zentralen gesellschaftlichen Anliegen? Auch im Kleinen wissen wir oft nicht, ob die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bereit sind, sich
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