Lebenschancen
Verschiebungen zwischen den Bevölkerungssegmenten kommt, die Reibungen auslösen. Einheit, Zusammenhalt, sozialer Frieden, Konsensorientierung sind weit brüchiger und vergänglicher, als man zunächst denkt. Wenn in der Hamburger Innenstadt auf einer Audi-Limousine ein Aufkleber mit dem Slogan »Eure Armut kotzt mich an« zu sehen ist, kann dies sicherlich nicht als repräsentativ für die mentale Lage der besseren Schichten insgesamt gelten, aber doch als Indiz dafür, dass man solche Ressentiments heute durchaus zur Schau stellen kann. Dass man solche Sprüche hört und liest, ist ein Anzeichen dafür, dass sich – mit
Michel Houellebecq gesprochen – die Kampfzone allmählich ausweitet. Der Druck auf die Pfeiler des solidarischen Wohlfahrtsstaats wächst gewaltig. Dafür ist einerseits die Globalisierung verantwortlich, gegen die man sich nicht abschotten kann; andererseits aber auch Verschiebungen im Inneren des Nationalstaats, man denke an neue Familien- oder Partnerschaftsmodelle, Zuwanderung, die demografische Entwicklung sowie das Verhältnis zwischen den Generationen, die sich wandelnde Erwerbs- und Einkommensstruktur usw.
Wo es um die Erzeugung und Reproduktion von Solidarität geht, sehen wir uns also mit einer Reihe sich wandelnder sozialstruktureller und soziopolitischer Parameter konfrontiert. Wie gesagt: Die Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich, die Gewährleistung gleicher sozialer und kultureller Teilhaberechte sowie eines menschenwürdigen Daseins für alle Bürger sind weithin anerkannte Ziele. Darüber, wie man sie erreichen kann und soll, wird allerdings leidenschaftlich debattiert: Auf der einen Seite stehen dabei die Befürworter der Umverteilung und des starken Sozialstaats, auf der anderen Liberalisierungsenthusiasten, die Steuersenkungen und schlankere bürokratische Apparate für die entscheidenden Wachstumsfaktoren halten und davon überzeugt sind, dass Wachstum irgendwann immer auch den weniger privilegierten oder gar abgehängten Schichten zugutekommt. Im Anschluss an die auf Adam Smith (1974 [1776]) zurückgehende Trickle-down -These gehen sie davon aus, dass der Reichtum von oben nach unten durchsickert, weil die Reichen Arbeitsplätze schaffen, Dienstleistungen konsumieren, Villen bauen usw. Eine Gesellschaft, die den Leistungsträgern das Vorankommen erleichtert, hätte insofern auch einen Kollateralnutzen für die Menschen auf den unteren Stufen der Hierarchie. Überbordende Bürokratie und ein wasserköpfiger Sozialstaat mit einer wachsenden »Armutsindustrie« seien im Vergleich dazu ineffektiv, sie schränkten die Freiheit der Bürger ein, ja bevormundeten sie geradezu.
Diese Pro- und Contra-Argumente sind die meist dissonante Begleitmusik des Wohlfahrtsstaats, seit Reichskanzler von Bismarck vor nun bald eineinhalb Jahrhunderten den Grundstein für das System der Sozialversicherungen legte. Was sich allerdings verändert, ist der Resonanzraum, in dem sie geäußert werden. Das Gesamtvolumen an gesellschaftlicher »Sozialenergie« (Helmut Klages) – wenn man die Solidaritätsressourcen so bezeichnen will – mag nicht verfallen, wohl aber verändern sich die Energieformen und die Strömungsrichtungen. Bestimmte Solidaritätsbereitschaften schwächen sich ab, andere bleiben oder werden sogar gestärkt. Zygmunt Bauman stellt die These auf, dass es angesichts neuer Unsicherheiten immer schwerer fällt, gesellschaftsweite oder gar übernationale Solidarität aufzubauen:
»Jenes Spezielle von Unsicherheit, dunklen Vorahnungen und Zukunftsangst, das die Menschen in einem fluiden, sich ständig wandelnden Umfeld quält, dessen Regeln mitten im Spiel ohne Warnung und erkennbares Muster geändert werden, führt nicht zur Solidarisierung der Leidenschaften – vielmehr spaltet es sie und trennt sie voneinander.« (2009: 61 f.)
Wer in Gefahr gerät oder meint, in Gefahr zu geraten, ist weniger geneigt, sich auf anspruchsvolle Solidaritätskonzeptionen zu verpflichten: Wie angedeutet, wird Solidarität eher kleinteiliger, beschränkt sich auf den gesellschaftlichen Nahbereich. Bauman erwartet eine Stärkung partikularistischer Formen der Gemeinschaftlichkeit, die Schließung und Abgrenzung beinhalten. Gruppenübergreifende Formen der Solidarität seien hingegen auf dem Rückzug.
Gerade vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Attacken auf den Sozialstaat mitunter immer polemischer und grundsätzlicher werden, vielen erscheint er als dysfunktionaler
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