Lebenschancen
verregneten Bahnsteigen. Außerdem haben viele Pendler das Gefühl einer zunehmenden Entfremdung von der eigenen Familie, sie glauben, sie würden zum reinen Ernährer degradiert (ebd.). Alois Stutzer und Bruno Frey (2008) vom Institut für empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich haben festgestellt, dass die Lebenszufriedenheit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Arbeitsweg steht. Je länger der Fahrweg, desto größer die Einbußen an Lebenszufriedenheit. Um diesen Verlust an Lebensglück wettzumachen, müsste man den Modellen nach für eine Pendelzeit von einer Stunde etwa 40 Prozent mehr verdienen. Forscher sprechen daher vom »Pendler-Paradox«, weil viele pendeln, obwohl derartige Einkommenszuwächse ausbleiben.
Im Gegensatz zu den Pendlern machen die Auswanderer einen klaren Schnitt, sie wagen woanders einen kompletten Neuanfang. Als die Zahl der Menschen, die Deutschland auf Dauer verließen, in den neunziger und nuller Jahren plötzlich deutlich anstieg, begann bald eine alarmistische Diskussion unter dem Motto »Deutschland blutet aus«. Wanderten in den Siebzigern und Achtzigern jährlich weniger als 60 000 Menschen aus, stieg
diese Zahl in den neunziger Jahren auf über 100 000. 2006 bis 2009 waren es dann schon jeweils über 150 000 (2010 war die Zahl aufgrund der verbesserten wirtschaftlichen Situation zwar etwas rückläufig, aber immer noch vergleichsweise hoch).
Ökonomische Aspekte sind wichtige Wanderungsmotive, Menschen ziehen allerdings auch aus familiären, sozialen oder bildungsbezogenen Gründen um. Man denke nur an die Ruhestandsmigration in Richtung Südeuropa, an Erasmusstudenten oder an Paare, die sich im Urlaub verliebt haben und nun zusammen leben wollen. In einer Studie der Universität Bremen haben wir genauer auf die ökonomischen Gründe für die Bereitschaft zur Auswanderung bei qualifizierten Facharbeitern und Technikern geschaut. Dabei stellte sich heraus, dass Arbeitslosigkeit, Jobunsicherheit, mangelnde berufliche Perspektiven und eine lahmende wirtschaftliche Entwicklung ganz allgemein die wichtigsten Ursachen für den Abschied aus Deutschland darstellen (Mau et al. 2007). Viele der Teilnehmer berichteten von Kündigungen, diskontinuierlichen Erwerbsverläufen, der fehlenden Bereitschaft, erneut eine befristete Stelle anzunehmen. Vor allem ältere Arbeitnehmer sahen hierzulande nur noch wenige Chancen und waren deshalb trotz mangelnder Sprachkenntnisse und begrenzter Auslandserfahrungen bereit, sich auf einen so großen Schritt einzulassen. Auf die Frage, wann man eigentlich zu alt sei, um in der Heimat noch eine Anstellung zu finden, erhielten wir von einer Fachkraft aus der Baubranche folgende Antwort: »Ich bin jetzt 38 [!] geworden. Wenn ich 40 bin, dann hab ich hier in Deutschland sowieso keine Chance mehr, einen Job zu bekommen.« Ein anderer Befragter aus derselben Branche argumentierte ganz ähnlich »Wenn ich höre, dass sie [in Norwegen] mit 55 noch Leute nehmen, wegen der Erfahrung, und ich hier mit 38 schon zu alt bin, dann sag ich mir: Was soll ich hier?«
Zwar sind nicht alle demografischen Gruppen gleichermaßen mobil, dennoch wissen wir, dass zunehmend auch Personen mit mittleren Qualifikationen, also Facharbeiter und Techniker,
bereit sind, innerhalb Europas zu wandern (Mau et al. 2007). Derzeit sind junge Menschen und Hochqualifizierte allerdings in der Gruppe der Auswanderer noch überproportional stark vertreten. Immerhin 28 Prozent der im Ausland lebenden Deutschen haben einen tertiären Bildungsabschluss (im Durchschnitt der Bevölkerung sind es 20 Prozent), ca. 40 Prozent sind zwischen 25 und 40 Jahre alt (Ette/Sauer 2007). Gerade für Akademiker oder Beschäftigte im gehobenen Management gehören längere (zum Teil auch langjährige) Auslandsaufenthalte oft zum Anforderungsprofil, wenn man sich auf eine neue Stelle bewerben will. Bei den Studierenden wissen wir, dass Studienphasen im Ausland umso wahrscheinlicher sind, je höher der soziale Status ist. Akademikerkinder sind deutlich internationalisierter als Kinder aus Arbeiterhaushalten. Auch hier ist die temporäre Exit-Strategie ein Schritt in einem längerfristig angelegten Aufstiegsprojekt. Bildungsmobilität verschafft Wettbewerbsvorteile und macht internationalisierte Karrieren wahrscheinlicher (Mau 2007).
Angesichts des Umstandes, dass bestimmte Gruppen immer noch mobiler sind als andere, spricht man auch von »selektiver Wanderung«. Für die Abstromregionen
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