Lebenschancen
durch eigene Beiträge an der Produktion kollektiver Güter zu beteiligen. Es gibt vermutlich Steuerzahler oder Arbeitnehmer, die sich nicht nach dem Schutzschirm der öffentlichen Fürsorge sehnen, und vielleicht leuchtet nicht jedem unmittelbar ein, wozu man ihn überhaupt braucht. Viele Menschen haben in ihr Humankapital investiert, fühlen sich nun fit für den Wettbewerb und verlangen von anderen, sich ebenfalls anzustrengen. Der mit Begriffen wie Autonomie und Eigenverantwortung unterlegte Leistungsdiskurs führt dazu, dass Erfolg wie Scheitern individuell zugeschrieben und nicht länger als kollektives Schicksal betrachtet werden. Die zunehmende ökonomische und soziale Polarisierung gibt diesem Trend zusätzlichen Schub. Lebenswelten unterschiedlicher Schichten, die einstmals eng miteinander verwoben waren, werden immer stärker separiert. Damit verändern sich auch Einstellungsmuster, Interessen und normative Orientierungen.
Um es noch einmal zu wiederholen: Die Menschen merken, dass sich die Schere geöffnet hat. 82 Prozent der Deutschen halten die Einkommens- und Vermögensverhältnisse für ungerecht (Schenker/Wegener 2007: 8). Dementsprechend beklagen sehr viele Menschen ein Klima der sozialen Kälte und die wachsende soziale Ungleichheit. Vier Fünftel der Deutschen sind beispielsweise der Ansicht, es sei ungerecht, dass reiche Eltern ihren Kindern eine bessere Ausbildung ermöglichen können (Sachweh et al. 2010). Doch trotz aller Ungleichheitskritik hat sich die gesellschaftliche Basismentalität geändert, es ist nicht mehr selbstverständlich, dass man füreinander einstehen soll, immer mehr Wenns und Abers werden laut. Mehr als die Hälfte der Befragten glaubt, dass der Sozialstaat die Menschen heutzutage dazu
verführt, nicht mehr wirklich für sich selbst zu sorgen (Schrenker/Wegener 2007: 43). Die Umfrageergebnisse muten widersprüchlich an, aber genau diese Ambivalenz prägt derzeit den Moralhaushalt breiter Segmente der Mittelschicht. Sie beobachten gesellschaftliche Veränderungen, die ihnen unbehaglich und sogar bedrohlich erscheinen, viele von ihnen stehen staatlichen Instrumenten der Abhilfe und der Schadensbegrenzung aber skeptisch gegenüber. Heute ist es immer weniger ein unbedingtes (staatsbürgerliches) Pflichtgefühl, welches Solidarität mit anderen Gruppen motiviert, eher sind es konkrete Zwecke. Die solidarische Opferbereitschaft steht und fällt mit der Bewertung potenzieller Empfänger von Sozialtransfers, mit gefühlter sozialer Nähe sowie dominanten Ideen der Gerechtigkeit.
Ein wichtiger Faktor ist in diesem Zusammenhang die bereits angesprochene Entfremdung zwischen den Schichten. »Entfremdung« meint hier, dass sich Arme und Reiche, Privilegierte und Deprivierte immer seltener begegnen, dass sich ihre Lebenswelten nicht mehr überschneiden usw. Natürlich ist das kein vollkommen neues Phänomen, gerade die vielzitierten »oberen Zehntausend« bleiben seit jeher gerne in ihren Villenvierteln, Sternelokalen und Edelboutiquen unter sich. Was allerdings – gerade gemessen an den goldenen Jahren des Wohlfahrtsstaats – wirklich einen Einschnitt markiert, ist der Umstand, dass eine »neue Unterschicht« entstanden ist, die als solche identifiziert, bezeichnet und auch räumlich isoliert wird. Dieses oft stigmatisierend eingesetzte Label zielt auf Menschen, die nicht einfach nur in dem Sinn arm sind, dass es ihnen an ökonomischen Ressourcen mangelt; ihnen fehlen (angeblich) auch »sozial wertvolle« Verhaltensweisen und die »richtigen« kulturellen und moralischen Orientierungen. Heinz Bude, der solche Exklusionsprozesse seit Jahren präzise analysiert, spricht von Gruppen, die den Anschluss an den Mainstream (oder das, was darunter verstanden wird) allmählich verlieren. Sie sind ausgeschlossen, werden zu »Überflüssigen« (Bude 2008), mit denen die Gesell
schaft immer schlechter umzugehen weiß. Damit sind abwertenden und ressentimentgeladenen Urteilen über diese Gruppe Tür und Tor geöffnet. Wer als anders wahrgenommen wird, darf auch anders bewertet und behandelt werden. Solche wachsenden Distanzen können die Konsensfähigkeit und auch den Zusammenhalt einer politischen Gemeinschaft ernsthaft schwächen, wie uns das Beispiel USA lehrt (Hacker/Pierson 2010). Hier übersetzen sich die sozialen Unterschiede zunehmend in politische Spaltungen und feste Lagerbildungen, die die Regierbarkeit des Landes zu unterminieren drohen.
»Ansteckungsgefahren« von unten
Wir
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