Lebenschancen
betonen: Die Grundorientierung der Mittelschichten ist die der Besitzstandswahrung und der Statussicherung, gepaart mit moderaten Aufstiegsbestrebungen. Vor dem Hintergrund eigener Anstrengungen, die oberen Ränge der sozialen Hierarchie zu erklimmen, ist die Mittelschicht auf soziale Distanzierung nach unten bedacht. Zudem gilt: Wo Fleiß, Bildungsinvestitionen und Aufstiegsorientierung zum sozialen Habitus gehören, ist der Schritt zum Ressentiment gegenüber Menschen, denen ein Mangel daran attestiert wird, nicht weit. Moralischer Rigorismus, Sicherheitsstreben, Harmoniezwang und Ordnungsfixierung sind ursprünglich als kleinbürgerliche Werte beschrieben worden (Haupt/Crossick 1998), doch heute sind einige Segmente der gehobenen Mittelschicht dafür anfällig, sobald ihre Welt in Gefahr gerät, zumal in dieser Schicht der Leistungs- und Bildungsethos stark ausgeprägt sind. Der Neologismus der »Min
derleister« (das Gegenstück ist der »Turboleister«) zielt genau auf jene Menschen, die nicht können oder wollen. Er markiert Unterschiede zwischen denen, die legitimerweise Ansprüche anmelden können und dazugehören, und denjenigen, denen man solidarischen Beistand versagt.
Einige Beobachter nehmen deshalb an, dass die Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft »wie Gletscher in den Zeiten globaler Erwärmung« (Herfried Münkler) rasch schmelzen könnten. Entsprechende Ressentiments richten sich dann gegen Bedürftige und Abgehängte, aber auch gegen Fremde und Menschen mit Migrationshintergrund. Nicht von ungefähr werden Hartz- IV -Empfänger, die es sich vermeintlich in der sozialstaatlichen Hängematte gemütlich machen, immer wieder gegen die schlecht bezahlte, aber fleißige Krankenschwester, die Verkäuferin oder den Postzusteller ausgespielt. Der »anstrengungslose Wohlstand«, den Spitzenpolitiker gerne unterstellen, mag in Einzelfällen vorkommen. Wir alle haben von »Florida-Rolf« gehört, der von Transfers aus Deutschland lebte. Das mag vielleicht kritikwürdig sein und hat auch Gesetzesänderungen nach sich gezogen. So wie das vermeintliche »Sozialschmarotzertum« aber in der Öffentlichkeit diskutiert und angeprangert wird, geht es vor allem um Deutungshoheit und grundlegende ideologische Kontroversen. Diejenigen, die solche Begriffe nutzen und sie als ehrliche Bestandsaufnahme rechtfertigen, machen sich latente Ressentiments zunutze. Sie simulieren einen Kulturkampf zwischen denen, die Leistung verweigern und sich staatlich alimentieren lassen, auf der einen und den Ehrlichen und Fleißigen auf der anderen Seite.
Sozialangst und die Vereisung des sozialen Klimas
Das Hantieren mit Pauschalurteilen ist Teil des politischen Geschäfts und des sozialen Alltags, gefährlich wird es, wenn sich solche Vorurteile in Ablehnung und Abwertung fremder oder als andersartig wahrgenommener Gruppen übersetzen. Wilhelm Heitmeyer, der Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, hat in einer Serie von Untersuchungen ein Phänomen erforscht, das er als »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« bezeichnet. Mit diesem Begriff fasst er unterschiedliche Einstellungen zusammen, bei denen es um die Abwertung als irgendwie anders wahrgenommener Gruppen geht, also beispielsweise von Ausländern, Homosexuellen, Obdachlosen oder Behinderten. Er kann zeigen, dass Aussagen wie »Es leben zu viele Ausländer in Deutschland«, »Die Präsenz von Obdachlosen empfinde ich als unangenehm und diese sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden« oder »Es ist empörend, wenn sich Langzeitarbeitslose von der Gesellschaft unterhalten lassen«, relativ viel Zustimmung finden. Außerdem fordert ein großer Teil der Bevölkerung Privilegien für Menschen, die schon immer hier leben, Heitmeyer spricht an dieser Stelle von »Etabliertenvorrechten«. In den letzten Jahren beobachtet Heitmeyer Tendenzen der Vereisung des sozialen Klimas, welche er unter anderem auf die krisenhaften Erscheinungen (Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Prekarisierung, Krise des Sozialstaates, Schuldenkrise) zurückführt (2009, 2010, 2011). Wer sich unsicher fühlt, reagiert oft mit Abwehr und der Abwertung anderer Gruppen.
In Heitmeyers Studien vertreten große Teile der Befragten die Ansicht, dass wir in Deutschland zu viele schwache Gruppen mitversorgen müssen (61 Prozent), dass wir es uns in Zeiten der Wirtschaftskrise nicht mehr erlauben können, Minderheiten besonders zu achten und zu schützen (20
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