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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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wissen aus vielen Studien, dass die Nähe zur Armut Ansteckungsängste bei den besser gestellten Gruppen auslösen kann (Gans 1995). Oft wird versucht, den sozialen wie räumlichen Abstand zu Armen und zur Armut zu vergrößern. Es ist wie bei einer Epidemie: Viele Menschen werden panisch, wollen dem Erreger ausweichen, weil sie glauben, Armut könnte sich übertragen oder irgendwie auch ihr Leben beeinträchtigen. Reale Gefahren der Ansteckung drohen vor allem dann, wenn Armut ganze Nachbarschaften, Milieus oder öffentliche Orte betrifft. Die schlüssigste Erklärung für die Ausbreitung sozialen Verfalls bietet die broken-window- Theorie, die davon ausgeht, dass Normverletzungen andere Normverletzungen nach sich ziehen, weil die Hemmschwelle sinkt. Müll auf der Straße führt zu noch mehr Müll, Kriminalität zu noch mehr Kriminalität. Schon 1969 zeigte der Psychologe Philip Zimbardo (1973) in einem Experiment, wie solche Prozesse in Gang gesetzt werden. Er stellte in der New Yorker Bronx und in Palo Alto (Kalifornien) Autos mit geöffneter Motorhaube auf die Straße. Während es in der heruntergekommenen Bronx nur kurze Zeit dauerte, bis das Auto ausgeschlachtet und demoliert war, blieb das
Fahrzeug im relativ wohlhabenden Palo Alto lange Zeit unberührt. Erst als die Wissenschaftler selbst die Scheibe einschlugen, begann auch dort der Vandalismus. Diese Theorie ist später auf ganze Wohnviertel übertragen worden. So kann zum Beispiel ein zerbrochenes Fenster in einem leer stehenden Haus eine Abwärtsspirale für ein ganzes Quartier auslösen, wenn es nicht repariert wird. Nimmt niemand Anstoß, kommt es zu weiteren Formen der Verwahrlosung. Die soziale Kontrolle sinkt. Ähnliches gilt für Stadtviertel, in denen »Problemfälle« sichtbar werden, wenn beispielsweise immer mehr Trinker bereits vormittags vor dem Supermarkt stehen oder Menschen vom »Rand« der Gesellschaft die öffentlichen Plätze besetzen.
    Unbehagen verbreitet sich auch, wenn sich im Freundes- oder Bekanntenkreis Abstiegskarrieren ankündigen. Während Beistand und gute Worte zunächst ganz selbstverständlich sind, schwächen sich Empathie- und Solidaritätsbekundungen nach einer Weile deutlich ab. Das kann bis zum Abbruch des Kontakts gehen, vor allem dann, wenn das Gefühl entsteht, dass der Abstieg von Dauer ist. Nur sehr enge familiäre Bindungen verstärken sich in Zeiten sozialer Härten und können deutlich höhere Belastungen aushalten. Für diejenigen, die den Anschluss verlieren, ist der Abstand zur Mehrheitsgesellschaft in verschiedener Hinsicht ein Problem. Zu finanziellen Engpässen gesellen sich nicht selten Ausgrenzungserfahrungen, soziale Isolation und ein Verlust an Selbstbewusstsein (Kronauer 2002). Sicher, Arbeitslose ziehen sich auch selbst zurück, weil sie anderen nicht zur Last fallen wollen, aber ein ebenso wichtiger Faktor ist der Fluchtreflex der Mitmenschen, die sich selbst vor solchen Härten schützen wollen. Das Telefon bleibt stumm, Verabredungen werden wegen irgendwelcher »Termine« abgesagt, schon wieder eine Geburtstagsparty, zu der man nicht eingeladen war: All das sind aus Sicht der Betroffenen leise Zeichen dafür, dass die Mitmenschen Kontakte zunehmend meiden. Wir haben es insofern mit einer Form der sozialen Prophylaxe zu tun. Dass wir auch
selbst häufig geradezu reflexartig in solche Verhaltensmuster verfallen, merkt man, wenn man in der U-Bahn oder im Bus sitzt und ein Obdachloser einsteigt, der vielleicht schon eine Weile nicht mehr geduscht oder die Klamotten gewechselt hat: Wir rücken instinktiv weg, wollen Abstand gewinnen, um nicht selbst zu Schaden zu kommen. Hat man erst einmal realisiert, dass das Eis dünner wird, geht die Hilfsbereitschaft für diejenigen, die bereits eingebrochen sind oder am Rand der Scholle stehen, schnell verloren. Genau darauf zielt Herfried Münklers Bild von der Selbstabschließung der Mittelschicht nach unten:

    »Als Erstes wird der Fahrstuhl des sozialen Aufstiegs durch Strickleitern ersetzt, also das Maß der für den Aufstieg erforderlichen Eigenanstrengung erhöht, dann werden die Strickleitern hochgezogen, und diejenigen, die diesen Aufstieg als Letzte geschafft haben, werden als Wächter eingesetzt, die ein weiteres Nachrücken verhindern sollen.« (2010: 70)

    Besonders anfällig für solche Ansteckungsängste sind vor allem jene Menschen, die ohnehin bereits das diffuse Gefühl haben, ihr soziales Immunsystem sei angeschlagen. Um es noch einmal zu

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