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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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ökonomistische Bewertungen im Hinblick auf mögliche »Erträge«, weshalb man in der Literatur auch vom »social investment state« spricht (Morel et al. 2011). In diesem werden Schutz- und Versorgungsansprüche entsprechend ihres produktiven Werts priorisiert: Welche »returns« bringt diese oder jene Leistung? Es geht dann darum, in Bereichen wie Bildungs-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik so umzusteuern, dass die gesellschaftlichen Produktivitätspotenziale (z. B. die Humankapitalressourcen oder das Arbeitsvermögen) effizienter gehoben werden. Sozialpolitik ordnet sich damit der gesamtgesellschaftlichen Produktivitätsorientierung unter. Selbst in der Migrationspolitik haben solche Einstellungen Tritt gefasst, ob es nun um legale Zuwanderung geht oder um Bleiberechtsregelungen (z. B. wenn das Aufenthaltsrecht für ganze Familien an die schulischen Leistungen der Kinder gekoppelt wird).
    In anderen Bereichen agieren die politischen Akteure weitaus zögerlicher. Bei der Neubemessung der Hartz- IV -Sätze, die man als objektive und transparente Reaktion auf die Schelte des Bundesverfassungsgerichts verkauft hat, wurde nun zwar die Berechnungsgrundlage offengelegt, sie folgte jedoch haushaltspolitischen Vorgaben. Viel teurer sollte das Ganze nicht werden. Jeder, der ein wenig Ahnung von derartigen Bemessungsverfahren hat, weiß, wie viele Voreinstellungen zu Vergleichsgruppen, Warenkorb und Gewichtungsfaktoren die Endsumme manipulierbar halten und dass die Berechnung letztlich auf Wertent
scheidungen beruht. Die fünf Euro, um die die Regelsätze erhöht wurden, haben allenfalls bei den üblichen Verdächtigen in Opposition und Sozialverbänden Erregung freigesetzt, bei der breiten Mittelschicht nicht.
    All das ist durchaus symptomatisch. Die Verteidigung eines auf den Abbau der Armut fokussierten Sozialstaats ist nicht unbedingt die Sache der Mittelschicht, heute weniger denn je. Ihre politischen Protagonisten sind vielmehr dabei, die Grammatik wohlfahrtspolitischer Interventionen dergestalt zu beeinflussen, dass sich die Leistungsbilanz der Mittelschicht nicht weiter verschlechtert. Anders als im Thatcher-Großbritannien, wo das Sozialstaatshaus, das schon immer einigermaßen unbehaglich eingerichtet war, zurückgebaut wurde, ist die Mittelschicht in Deutschland dem Wohlfahrtsstaat nach wie vor verbunden – und zwar im ureigenen Interesse. Sie befindet sich immer noch in der Kernzone der staatlich organisierten Solidarität und möchte es angesichts unsicherer Marktlagen und krisenhafter Entwicklungen auch bleiben. Gleichzeitig stöhnen viele Mittelschichtler unter der Abgabenlast und der kalten Progression. In dieser Gemengelage sind die Spielräume der Solidarität begrenzt.
    Die Kunst des politischen Gestaltens besteht darin, Menschen aus ihrem Vorgarten herauszuführen und in ein Gemeinwesen der wechselseitigen Verpflichtung und Verantwortung einzubinden. Deshalb wird auch zunehmend darüber diskutiert, dass es nicht reicht, »die politische Mentalität der Mitte […] zu spiegeln, um dort Mehrheiten zu bekommen, sondern die Einstellungen hier nach den Maßstäben der sozialen Demokratie zu verändern und neu zu prägen« (Walter 2010: 76). Dies gilt vor allem für die großen Parteien. Kleine Parteien klammern sich viel stärker an die Interessen spezifischer Gruppen: Sie können sich mitunter auch gegen die Interessen der Mitte profilieren. Solidarität dagegen muss, wenn sie wirkungsvoll zum Einsatz kommen soll, eine bestimmte gesellschaftliche Breite haben, also ein Band zwischen den Privilegierten und den Bedürftigen,
zwischen den geschützten und den Risikogruppen zu spannen wissen. Ansonsten bleibt sie Makulatur. Die gesellschaftliche Mitte, soweit sie von Statusangst und Unsicherheit beherrscht ist, wird für ein solches Projekt nicht ohne Weiteres zu gewinnen sein.

6. Für eine Politik der Lebenschancen
    Wer sich mit offenen Augen und Ohren durch dieses Land bewegt, spürt, dass das Unbehagen an einer immer stärker auf Wettbewerb und Statuskonkurrenz ausgerichteten Gesellschaft wächst. Zwar gibt es die Wendigen, Durchsetzungsfähigen und Antriebsstarken, denen der erhöhte Druck nichts auszumachen scheint, aber es gibt auch die große Gruppe der Menschen, denen diese Entwicklung mehr und mehr zusetzt. Viele empfinden den sozialen Stress, den die jüngsten Veränderungen mit sich gebracht haben, zunehmend als belastend. Da sind die Klagen der älteren Arbeitnehmer, die sich eine Position in ihrem

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