Lebenschancen
Arbeitsplatz finden, wenn sie wirklich wollten« (Sachweh et al. 2010). Wer glaubt, es gebe ein »wachsendes Heer an Leistungsfernen, die […] tendenziell nie wieder in der Leistungszone auftauchen werden« (Sloterdijk 2010: 117), zweifelt vermutlich auch an der Legitimität und Sinn
haftigkeit staatlicher Transfers und ist nicht mehr ohne Weiteres zu solidarischem Handeln bereit.
Der Knackpunkt solcher Formen der sozialen Taxierung ganzer Gruppen sind die Hintergrundannahmen zu Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft. Nur wer sich anhaltend bemüht, verdient Unterstützung, wer sich hängen lässt, nicht. Viele in der Mittelschicht sind der Meinung, es sei Arbeitslosen durchaus zuzumuten, Jobs anzunehmen, für die sie überqualifiziert sind, wegen einer neuen Stelle umzuziehen oder zu pendeln (Sachweh et al. 2010). Auch Leistungskürzungen als Reaktion auf die Ablehnung eines Stellenangebots finden durchaus Akzeptanz in der Bevölkerung. Interessant ist, dass ältere Arbeitnehmer in vielerlei Hinsicht anders bewertet werden; vor allem sollte ihnen, so meinen einer jüngeren Umfrage zufolge immerhin 86 Prozent der Befragten, eine längere Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung zugestanden werden (Landmann 2012). Ältere Menschen werden stärker anhand ihrer Lebensleistung bewertet, die Jüngere noch nicht aufzuweisen haben. Deshalb steht bei den Jungen die Frage nach der Motivation und Leistungsbereitschaft im Vordergrund. Kuckt man genauer hin, ist die Unterscheidung, die zwischen leistungsbereiten und passiven Arbeitslosen gezogen wird, meist willkürlich. Kann man von einer alleinerziehenden Mutter wirklich erwarten, dass sie wegen eines Jobangebots umzieht? Dass sie Eltern, Verwandte und Freunde verlässt, die bislang ein wichtiges soziales Netzwerk für sie darstellten? Ist es wirklich notwendig, auch noch die dritte Umschulung zu machen und eine Bewerbung nach der anderen zu schreiben, selbst wenn diese nicht einmal beantwortet werden? Welche Arbeit gilt generell als zumutbar, wenn man viel in seine Ausbildung (z. B. ein Studium) investiert hat? Ein Ingenieur, der jahrzehntelang eine Abteilung bei einem Anlagenbauer geleitet hat, ist bei einer Hausmeisterfirma, die ihn mit einfachen Tätigkeiten betraut, vermutlich fehl am Platz. Sein hohes Humankapital würde nach und nach entwertet, die Rück
kehr in eine angemessenere Beschäftigung immer unwahrscheinlicher. Doch gerade weil diese Fragen so schwer zu beantworten sind, begnügt sich die Öffentlichkeit häufig mit pauschalen Kategorisierungen. Wie schmal der Grat oft ist und wie schwer sich Experten und Praktiker mit solchen Klassifizierungen tun, bleibt dabei weitgehend außen vor.
Der Sozialstaat als Robin Hood?
Der Sozialstaat erscheint durch die Brille vieler Kritiker als eine Art Robin Hood, der den Wohlhabenden nimmt und den Armen gibt, wobei man im Rahmen der skizzierten Logik statt »wohlhabend« auch »leistungsbereit« und statt »arm« »faul« lesen kann. Unterschlagen wird dabei – vermutlich bewusst –, dass gerade der deutsche Sozialstaat nur eine begrenzte Umverteilungswirkung hat. Forscher, die sich auf den internationalen Vergleich spezialisiert haben, sprechen in Bezug auf Deutschland von einem (zumindest traditionell) »konservativen Wohlfahrtsstaat« (Esping-Andersen 1990). Das deutsche Modell zeichnet sich vor allem durch die Aufrechterhaltung von Statusunterschieden aus, nicht unbedingt durch Umverteilung von oben nach unten. Wer auf dem Arbeitsmarkt einen guten Status innehat und über ein gutes Gehalt verfügt, genießt deutlich bessere soziale Rechte als eine prekär beschäftigte Person mit kleinem Einkommen. In der Bundesrepublik wird jeder dritte Euro für soziale Zwecke ausgegeben, der geringere Teil davon fließt aber bedürftigen Gruppen am unteren Ende der Hierarchie zu. Die großen Posten sind Gesundheit, Rente und Familienförderung. Nur knapp über sechs Prozent des Sozialbudgets fließen in den Bereich der Grundsicherung für Arbeitslose, etwa ebenso viel in die Sozialhilfe und die Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Der breite Fluss der Sozialtransfers, man denke an die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, fließt nicht
über Klassen- und Schichtgrenzen hinweg, sondern er zirkuliert innerhalb der Statusgruppen. Umverteilung findet vor allem zwischen Lebensphasen statt, weniger zwischen genau abgegrenzten Bevölkerungssegmenten. Man kann den deutschen Sozialstaat deshalb auch als Sicherungsprogramm
Weitere Kostenlose Bücher