Lebenschancen
Unternehmen erarbeitet haben und deren Erfahrungswissen und Loyalität plötzlich nichts mehr wert sein sollen. Da ist die Krankenschwester, die am Ende des Arbeitstages erschöpft feststellt, dass der Druck immer größer wird, weil statt vier nur noch drei Kolleginnen die Station am Laufen halten müssen. Da ist der Lehrer, der trotz pädagogischer Leidenschaft an großen Klassen und schwierigen Schülern verzweifelt. Da ist die Frau, die sich zu lange auf den Haushalt beschränkt hat und nun nach der Scheidung einen Einstieg in den Arbeitsmarkt sucht. Da ist der Unternehmer, der von einem Partner in die Insolvenz gerissen wurde. Und schließlich ist da das ältere Ehepaar (sie mit Diabetes, er mit Rückenleiden), welches die wachsenden Gesundheitskosten kaum noch schultern kann.
Das alles sind Einzelschicksale, jedes für sich ist anders, doch sie haben einige Gemeinsamkeiten. Die Wichtigste ist der Verlust von Handlungsmöglichkeiten. Diese Menschen fühlen sich bedrängt, ausgesaugt, ermüdet, eingeengt, ausgegrenzt, verwaltet. Sie machen sich Sorgen, zweifeln daran, dass ihnen das Leben noch einmal gelingen wird. Sie bleiben mehr und mehr hinter den eigenen Ansprüchen zurück. Ihnen steht eine Gesellschaft gegenüber, in der es kaum Platz gibt für Resignation und Mut
losigkeit, die keine »Kultur des Scheiterns« kennt. Schlimmer noch: Sie schickt alle in die Aktivierung, predigt Eigenverantwortung und mobilisiert unentwegt; ganz so, wie es das Skript der Wettbewerbsgesellschaft verlangt. Die weniger Erfolgreichen sollen in gut Ausgebildete, Tüchtige und Tätige verwandelt werden. Jeder darf, jeder kann, jeder muss. Rentnern wird das aktive Altern schmackhaft gemacht, Arbeitnehmern die Erreichbarkeit rund um die Uhr, Studenten das durchgeplante und auf Marktgängigkeit ausgerichtete Studium. Von Leistungsbeziehern wird erwartet, dass sie sich in Maßnahmen weiterbilden lassen, mobil sind und den Umzug in eine andere Stadt oder Region nicht scheuen. Wie Wasser in einem Durchlauferhitzer sollen alle Moleküle der Gesellschaft auf Betriebstemperatur gebracht werden.
Es ist gut möglich, dass die Modebegriffe Leistungsbereitschaft und Erfolg größere Schatten werfen, als wir gemeinhin annehmen. Wo Erfolgsstreben die soziale Leittugend darstellt, wird Scheitern schnell zum Makel, zu einer illegitimen Lebensform, die immer weniger Anerkennung findet. Nichts ist falsch daran zu sagen, dass die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt ein zentrales Ziel sozialpolitischer Interventionen sein sollte, weil Arbeit neben Einkommen eben auch Zugehörigkeit und Identität vermittelt; der Spießrutenlauf aus Wiedereingliederungsmaßnahmen und der Androhung von Sanktionen vermag allerdings oft nicht zu überzeugen. Auch diejenigen, die zwar im Erwerbsleben stehen, sich aber nicht als unbegrenzt robust empfinden und denen Selbstbehauptung nicht über alles geht, verspüren den zunehmenden Leidensdruck. Sie sind hin und her gerissen zwischen solidarischem Schulterschluss mit denen am Rande und dem Bestreben, selbst in die Leistungsklasse aufzusteigen. Unter den Angehörigen der Mittelschicht, im Spannungsfeld von Leistungsmantra und Prekarisierungsangst, zeigt sich die Ambivalenz dieser Entwicklungen besonders deutlich. Ihr Ideal mag ein durchtrainierter und fitter Ge
sellschaftskörper sein, in der Realität ist ihnen das Risiko des Scheiterns aber nicht fremd. Sobald die Politik einmal wieder Eigenverantwortung und Leistungswillen propagiert, ahnen sie, dass nicht jeder Muskel anzieht, wenn man ihm das entsprechende Kommando gibt. Vielen ist klar, dass Wettbewerb nicht die Lösung aller Probleme sein kann.
Ein postheroischer Sozialstaat?
Doch wie kann man diesen Sorgen und Verunsicherungen politisch begegnen? In der öffentlichen Diskussion wird oft ein Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft oder Staat und Markt aufgemacht. Erst jüngst hat Kurt Biedenkopf, ehemaliger Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, ein Buch veröffentlicht, welches genau auf diese Alternative zielt. Sein Titel: Wir haben die Wahl: Freiheit oder Vater Staat (2011). Biedenkopf sieht (ganz in der Tradition der klassischen Sozialstaatskritik) den Staat immer expansiveren Ansprüchen der Gesellschaft ausgesetzt. Ein Mehr an Staat erscheint hier als das Gegenteil bürgerlicher Eigenverantwortung. Diese Tendenz, so Biedenkopf, unterminiere letztlich die freiheitlich demokratische Grundordnung.
Es ist höchste Zeit, den alten Gegensatz Staat vs.
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