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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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plädiert für die freiwillige Spende. Das Freiwilligkeitsprinzip soll danach das bislang etablierte Prinzip der Steuerpflicht nach Leistungsfähigkeit ablösen. Jeder wie er will, nicht wie er kann.
    Individualisierung, Privatisierung und Solidarität
    Wie man eine unsolidarische Mitte politisch geradezu produzieren kann, illustrieren die Thatcher-Jahre in Großbritannien. Margaret Thatcher, die »Evangelistin des Marktes« (Keith Dixon), diktierte ihren Jüngern: »Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen«, und setzte ein radikales Reformprogramm durch. Dieses war gekennzeichnet von Marktfundamentalismus, autoritärer Moral, ökonomischem Individualismus und dem ho
hen Lied auf den schlanken Staat. Gekonnt band sie die Mittelschicht in ihre Umbaubemühungen ein: Sie verteufelte das »living on the dole«, also das Ausnutzen staatlicher Transferleistungen, und propagierte gleichzeitig eine Ideologie der Eigenverantwortung (gegen Staatsverantwortung), des Individualismus sowie der Besitz- und Eigentumsorientierung. Statt sichernder staatlicher Versorgung wurden Leistungshöhen abgesenkt und Steueranreize für private Vorsorge gesetzt, so dass die Mittelschicht sukzessive vom Staat weg und in den Markt hineingezogen wurde. Dies mit der Folge, dass auch ihr Verständnis für diejenigen, die auf staatliche Hilfe angewiesen waren, sank. Dem Staat war nur eine nachgeordnete Rolle zugedacht, und auch das nur auf niedrigem Niveau. Der Markt und die Individuen sollten es selbst richten.
    Die britische Mittelschicht war durchaus empfänglich für individualistische und marktaffine Reformofferten. Ein unterfinanzierter und kaum leistungsfähiger Wohlfahrtsstaat konnte ihre Sicherheitsbedürfnisse immer weniger erfüllen. Zugleich wurde durch steuerliche Anreize der Verkauf privater Rentenversicherungen angekurbelt, und die Käufer waren überzeugt, diese würden später deutlich bessere Renditen einbringen. Die Privatisierung der Eisenbahn sowie von Teilen des Gesundheitssektors wurde weithin begrüßt, man versprach sich davon Bürokratieabbau und größere Kundenorientierung. Die Kosten dieser Entwicklung wurden erst viel später sichtbar und fielen dann auch auf die Mittelschicht zurück: Im Zuge der allgemeinen Liberalisierung stieg die Ungleichheit sprunghaft an, immer mehr Menschen verarmten, die Mittelschicht schrumpfte. Nach und nach wurden auch viele Bildungseinrichtungen kommerzialisiert. Insbesondere der Hochschulbereich wurde einer immer stärkeren Profit- und Marktorientierung unterworfen, so dass sich Bildung und Forschung immer mehr nach finanziellen Gesichtspunkten strukturieren. Mit den Sparplänen der Regierung Cameron (seit 2010) hat sich diese Entwicklung noch
einmal zugespitzt: Die Kürzungen bei der Hochschulfinanzierung (insbesondere der Lehre) haben zur Folge, dass die bisher (auf maximal 3300 Pfund pro Jahr) gedeckelten Studiengebühren auf bis zu 9000 Pfund steigen können. Schließlich wurden auch viele Rentner Opfer der privaten Vorsorge, zu der sie die Regierung zuvor ermuntert hatte. Rentenfonds gerieten – aufgrund von Missmanagement oder der Erschütterungen des Finanzmarkts – in Schwierigkeiten und konnten das Versprechen auf eine bessere Altersversorgung nicht einhalten. Studentenproteste und die jüngsten Krawalle in London (immerhin die reichste, aber zugleich ungleichste »Region« Europas) und anderen großen Städten haben unter anderem mit wachsenden Schieflagen zu tun, die bis auf die Thatcher-Zeit zurückgehen. Heute sind davon auch die Mittelschicht und ihre Zukunftsaussichten bedroht.
    Dies sind nur kurze Impressionen aus dem Land jenseits des Ärmelkanals, sie zeigen aber, welch desaströse Folgen zunächst scheinbar attraktive Marktlösungen langfristig haben können. Im historischen Rückspiegel erkennt man eindeutig, dass solche Veränderungen mit einem Auseinanderbrechen der Solidarität einhergingen. Ein Keil wurde in Großbritannien beispielsweise zwischen die sogenannten »deserving« und die »undeserving poor« getrieben, zwischen die Menschen, die ohne eigenes Verschulden in Not gerieten, und denen, die angeblich keine Hilfe verdienen. Diese moralische Bewertung durchzieht die gesamte Geschichte der britischen Armenhilfe und später der Sozialpolitik. In der Gegenwart finden sie auch in Deutschland immer mehr Menschen plausibel: Im Jahr 2007 stimmten beispielsweise 52 Prozent der Befragten der Aussage zu, »die meisten Arbeitslosen hierzulande könnten einen

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