Lebenschancen
auch von der Religiosität der Bevölkerung, schwer zu beeinflussenden Umweltfak
toren, kognitiven oder genetischen Aspekten und individuellen Erwartungshaltungen. Es gibt auch Diktaturen mit relativ glücklichen Bevölkerungen. Politik ist in erster Linie dafür verantwortlich, die institutionellen Bedingungen für individuelle Entfaltung und Entwicklung zu schaffen.
Amartya Sen, Joseph E. Stiglitz und Jean-Paul Fitoussi (2010) haben im Auftrag des französischen Präsidenten einen viel beachteten Bericht vorgelegt, in dem alternative Ansätze zur Messung des Wohlstands und der Lebensqualität präsentiert und verglichen werden. Die Autoren schlagen, zusätzlich zu den etablierten Maßen, eine Reihe weiterer Wohlstandsindikatoren vor, Instrumente zur Messung von Nachhaltigkeit, Einkommensentwicklung und -verteilung, von Konsum und Vermögen, Freizeitqualität und informellen Tätigkeiten. Auch Aspekte wie subjektives Wohlbefinden und Lebensqualität werden berücksichtigt. Was die Lebensqualität betrifft, gehen Sen, Stiglitz und Fitoussi davon aus, dass diese in erster Linie von den objektiven Lebensbedingungen und den Verwirklichungschancen der Menschen abhängt.
Der Nobelpreisträger Amartya Sen arbeitet schon lange am Konzept der »Verwirklichungschancen« ( capabilities ) und hat zahlreiche Publikationen dazu vorgelegt. Ihm geht es um die Freiheit der Menschen, ihre Lebenspläne so unbehindert wie möglich zu verfolgen und bestimmte Dinge zu erreichen. Im Gegensatz zu vielen normativen Theorien setzt er nicht einen Wert wie etwa die Gleichverteilung des Wohlstands als gesellschaftliche Zielgröße fest, sondern stellt individuelle Freiheiten der Lebensgestaltung in den Vordergrund. Die Hintergrundannahme ist, dass Menschen die Möglichkeit des selbstbestimmten Handelns als solche wertschätzen und dass sie eigene Lebensziele formulieren können und wollen. Freiheit wird als intrinsischer Wert verstanden. Was die gesellschaftlichen Bedingungen für die Verwirklichungschancen angeht, geht es sowohl um die Abwesenheit von Hindernissen für die eigene Entwicklung wie
auch die Anwesenheit von Gelegenheiten zur Erreichung selbstdefinierter Ziele.
Auch wenn dieser Ansatz noch nicht bis ins letzte Detail ausgearbeitet sein mag, bietet er doch einige Anhaltspunkte für eine veränderte Logik der politischen Intervention. Die Qualität des sozialen Zusammenlebens bemisst sich, folgt man dieser Logik, daran, inwieweit die Verwirklichungschancen der Bürger maximiert werden, und dieses Kriterium lässt sich dann auch auf einzelne politische Maßnahmen anwenden. Weder Sozialtransfers noch Aktivierung sind per se gut oder schlecht, sie können nur anhand ihrer Effekte auf die Verwirklichungschancen beurteilt werden.
Zweifelsohne hat manches, was uns im letzten Jahrzehnt als ein Plus an Eigenverantwortung verkauft worden ist, diesen Namen nicht verdient. Die Betonung der individuellen Verantwortung fungierte oftmals als Legitimationslametta für Leistungseinschränkungen, welche zum Teil massive Auswirkungen auf die individuelle Lebensführung hatten. Deswegen sagen manche Kritiker, der reformierte Sozialstaat sei weniger neoliberal als vielmehr »neosozial« (Lessenich 2008). Die steuernde, kontrollierende und reglementierende Komponente wurde massiv gestärkt. Gewinne bei Autonomie und Freiheitsgraden sind kaum zu verzeichnen. Der Befähigungskult, der seit einigen Jahren grassiert, zielt zwar vermeintlich auf Handlungschancen, doch die Wege, diese zu erreichen, sind mit Zwängen gepflastert. Natürlich gibt all das manchen Menschen Auftrieb, es existieren jedoch größere Gruppen, die von der Sanktionsschraube unbeeindruckt bleiben, und Teile der Mittelschicht, die solche Zwänge als Zumutung und Bedrohung empfinden. Insbesondere bei letzteren droht die Gefahr, dass eher Ent- als Ermutigung die Folge ist.
Eine Leitidee: Lebenschancen maximieren
Betrachtet man die wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen (die Öffnung der Einkommensschere, neue Unsicherheiten, die Chancenhortung auf den oberen Rängen der Sozialstruktur), dann erscheinen sozialpolitische Hebel der genannten Art kaum in der Lage, ihre Wirkung als Gegengifte zu entfalten. Es geht hier um mehr als nur um Zumutbarkeitsregeln und Sanktionsandrohungen. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen muss die Politik Antworten auf die Frage finden, wie der permanent zunehmenden Unsicherheit, der Erosion des Leistungsprinzips und der Monopolisierung
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