Lebenschancen
Markt zu überwinden. Der paternalistische und vormundschaftliche Staat auf der einen Seite, der Laissez-faire-Staat auf der anderen; Sozialismus hier, Raubtierkapitalismus da; Steuern rauf, Steuern runter: Das sind die alten Gräben, in denen es sich die politischen Akteure bequem gemacht haben. Wir brauchen jedoch Strategien, die Lebensrisiken ernst nehmen, dabei aber keine falsche Sicherheit versprechen. Will man solche Strategien entwickeln, muss man sich ein postheroisches Verständnis sozialstaatlicher Intervention aneignen. Der Sozialstaat muss und kann nicht der Held sein, der alle Probleme löst und den wir permanent bewundern; er darf überdies nicht immer sofort für alle
Fehler und Mängel verdammt werden. Etwas mehr Bodenhaftung und Augenmaß täten der Debatte gut, etwas weniger Aufgeregtheit auch. Wir brauchen eine offene Diskussion über die Ziele und Wertmaßstäbe unserer Gesellschaft. Erst dann kann man sich darüber verständigen, wie groß oder wie klein der Staat sein soll, darüber, wo er wuchert und wo er ausgebaut werden sollte. Natürlich gibt es nicht den einen Maßstab, an dem sich alle Institutionen ausrichten lassen. In der Praxis gilt es, ganz unterschiedliche Aspekte gegeneinander abzuwägen: Zusammenhalt und Effizienz, Gleichheit und Leistung, Produktivität und Teilhabe, Freiheit und Sicherheit. Gerade hier stehen wir vor größeren Aufgaben, als wir bislang geahnt haben. Die Unsicherheit, die uns aller Orten begegnet, verdankt sich nicht nur dem ängstlichen Blick in eine ungewisse Zukunft, sondern auch neuen Schieflagen, der gefühlten Ungerechtigkeit und dem Bruch des kollektiven Aufstiegsversprechens. In den Augen vieler Menschen wird die Gesellschaft mehr und mehr zu einer geneigten Ebene, auf der man zwar mit viel Mühe nach oben wandern, aber auch schnell ausrutschen und ohne Halt nach unten schlittern kann.
Wachstum als Wohlstandsgarant?
Welche Ziele könnten der Politik gegenwärtig als Kompass dienen? Die alte Schallplatte hat uns immer nur das Lied vom Wohlstand durch Wachstum präsentiert. Wachstum löst angeblich alle Probleme, vom Wachstum sollen alle Schichten profitieren. Dieser Nexus hat seine Glaubwürdigkeit verloren. Wir haben gesehen, dass Wachstum auch dazu führen kann, dass die Spitze sich radikal vom Rest abkoppelt. Noch grundlegender als bisher müssen wir daher die Frage stellen, ob ökonomisches Wachstum und allgemeiner Wohlstand wirklich ein Zwillingspaar bilden (Miegel 2010). Zudem gibt es begründete Zweifel daran, dass
das Bruttoinlandsprodukt ein geeigneter Indikator für gesellschaftlichen Fortschritt ist: Wenn man mit dem Auto im Stau steht, wächst das Bruttoinlandsprodukt, weil mehr Benzin verbraucht wird. Kaum jemand würde das als Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands begreifen.
Außerdem ist der Zusammenhang zwischen ökonomischen Zuwächsen und Lebensqualität nicht linear, wir stoßen auf so etwas wie den abnehmenden »Grenznutzen« ökonomischer Wohlstandsgewinne. Das nach dem Ökonomen Richard Easterlin benannte »Easterlin-Paradox« besagt, dass Einkommensgewinne in wohlhabenden Ländern kaum noch zu größerem subjektiven Glück oder größerer Lebenszufriedenheit führen (Easterlin 1974). Doch wenn das Wachstum als (alleiniger) Maßstab für kollektives Wohlbefinden nicht mehr taugt, auf welche Alternativen können wir dann zurückgreifen, woran sollen wir uns orientieren? Vorschläge gibt es an dieser Stelle jede Menge. So hat etwa das Königreich Bhutan das Streben nach Effizienz, Produktivität und Profit ad acta gelegt, stattdessen wird dort das »Bruttonationalglück« gemessen – buddhistische Zufriedenheit statt Wachstumsfetisch. Um dem aktuellen Glücksniveau auf die Spur zu kommen, wird die Bevölkerung permanent zu Aspekten wie Wohlbefinden und ihrer Zufriedenheit in mehreren Bereichen befragt. Würde man diese Messapparatur auf Deutschland anwenden, stieße man vermutlich auf eine vergleichsweise hohe Lebenszufriedenheit, allerdings auch auf große Differenzen zwischen den gesellschaftlichen Schichten und auf jede Menge Zukunftssorgen. Als ausschließliche Zielgrößen für politisches Handeln taugen solche Maße allerdings nicht. Zwar kann das Glück der Menschen der Politik nicht egal sein, aber über gezielte Wohltaten die Zufriedenheit bestimmter Gruppen zu erhöhen, wäre der falsche Weg (Wagner 2009). Zudem ist bekannt, dass subjektives Glück nicht nur von politischen oder sozialen Faktoren abhängt, sondern
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