Lebenschancen
der Mittelschichten betrachten, denn sie profitieren verhältnismäßig stark von ihm.
Es gehört zu den hartnäckigsten optischen Täuschungen der Mittelschicht, dass sie ihre Position tendenziell anders sieht. Viele in der Mittelschicht betrachten sich vor allem als durch Steuern und Sozialabgaben geschröpft und beklagen, dass Gruppen am unteren Ende der Sozialstruktur zu stark von der Umverteilung profitieren. Dass sie selbst in einem bedeutenden Umfang Nutznießer solcher Transferprogramme sind, verstehen viele Angehörige dieser Schicht nicht. Eine Erklärung für solche Wahrnehmungsverzerrungen findet man bei Amor Tversky und Daniel Kahneman (1991): Laut den beiden Psychologen reagieren Menschen stärker auf Verluste als auf Gewinne ( loss aversion ). Dadurch erscheinen die durch Steuern und Sozialbeiträge auferlegten Kosten größer als der Nutzen, den die Menschen selbst aus dem Sozialstaat ziehen. Außerdem tauchen die Kosten, etwa auf der Lohnabrechnung oder dem Steuerbescheid, auf Euro und Cent genau auf, während staatliche Leistungen (vom Straßenbau bis zu Kindertagesstätten) kaum exakt beziffert werden können und ohnehin als Selbstverständlichkeit gelten.
Die Tendenz zur Orientierung auf den Statuserhalt ist zwar durch die Hartz- IV -Gesetzgebung etwas aufgeweicht worden, neuere Instrumente schließen aber an die Mittelschichtorientierung des deutschen Sozialstaats an. Das Elterngeld ist die Maßnahme par excellence , mit welcher die freundschaftliche Beziehung zwischen »Vater Staat« und Mittelschicht ihre Fortsetzung findet (über Ursula von der Leyen, die »Mutter des Elterngelds« und einflussreichste Sozialpolitikerin Deutschlands, hieß es in den letzten Jahren oft, sie »könne« nur Mittelschicht – so beispielsweise Elisabeth Niejahr in der Zeit [2011: 10]). Es wird zwar
aus allgemeinen Steuermitteln finanziert, ist allerdings als Lohnersatzleistung konzipiert. Die Leistungshöhe liegt (bis zur Obergrenze von 1800 Euro) im Schnitt bei 65 bzw. 67 Prozent des Nettoeinkommens vor der Geburt des Kindes, der Mindestbetrag bei 300 Euro. Wer am Arbeitsmarkt erfolgreich war, darf sich also auf ein recht gutes Auskommen während der Auszeit freuen. Wer wenig verdient, ist klar im Nachteil. Obwohl das Gesetz ursprünglich vorsah, den Bezug von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe nicht anzurechnen und auch diesen Gruppen den Mindestbetrag auszuzahlen, ist diese Regelung den schwarz-gelben Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen. In der Folge profitiert von der Maßnahme vor allem die Mitte. Inzwischen kann man im Internet den regen Austausch zwischen reisefreudigen Jungeltern mitlesen, die mit ihren Neugeborenen auf Grand Tour gehen wollen. Wenn Mutter und Vater gleichzeitig Elternzeit nehmen und man den Jahresurlaub noch dazu rechnet, lässt sich immerhin ein sieben- bis achtmonatiges Sabbatical finanzieren. Das sind die kleinen Freiheiten des »Wickelvolontariats«, die sich nur einige wenige leisten können.
Die Eingemeindung der Mittelschicht in die Spendierzone des Sozialstaates hat über lange Zeit dafür gesorgt, dass Verteilungskonflikte, wie wir sie aus den USA oder England kennen, klein gehalten wurden. Zwar gibt es die genannte Kritik am Transferstaat auch bei uns, aber ein Staat, der die Mittelschicht als Nutznießer einbezieht, steht weniger in der Gefahr, als Umverteilungsmaschine wahrgenommen zu werden. Aber ob die Mittelschicht dauerhaft dem Wohlfahrtsstaat verbunden bleiben wird, lässt sich heute nicht abschließend beurteilen. Sehr wahrscheinlich gilt ihre Loyalität nicht dem Wohlfahrtsstaat per se , sondern vor allem einem Set besonders akzeptierter Leistungen. Als gegen Kritik weitgehend immun, ja sogar prinzipiell ausbauwürdig gelten jene, die man in irgendeiner Form mit dem Leistungsmantra verknüpfen kann. Ob bei Renten, Hartz- IV -Schonvermögen, Elterngeld, Deutschlandstipendien oder Bildungs
gutscheinen: Mal sind es die Lebensleistung und die Erfolge der Älteren bei der Schaffung des kollektiven Wohlstands, mal die eigenverantwortlichen (aber staatlich kofinanzierten) Anstrengungen zur privaten Vorsorge, mal die Leistungen zur Sicherung des nationalen Nachwuchses, mal das zu fördernde Talent und die von ihm erwarteten Beiträge für die zukünftige Entwicklung, die als Legitimitätsformeln für einen veränderten Zuschnitt der Sozialpolitik herhalten müssen. Nicht nur spezifische Bedarfslagen motivieren staatliche Hilfeleistungen, sondern immer häufiger auch bestimmte
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