Lebenschancen
verschwunden wäre, hätte heute große Schwierigkeiten, sich in der (Arbeits-)Welt zurechtzufinden. Wie ein Analphabet stünde er vor all den Touchscreens, Apps und anderen technologischen Innovationen.
Bildung und Qualifikation berühren jedoch auch die Frage
der Ungleichheit und damit die Lebenschancen ganz allgemein. Arbeitslosigkeit und soziale Exklusion drohen heute schließlich vor allem Ungelernten und Niedrigqualifizierten. Je höher die Qualifikation, desto höher das Einkommen, die Beschäftigungssicherheit und desto besser die Absicherung. Natürlich soll eine Erstausbildung zur vom Staat angebotenen Grundausstattung gehören, aber auch darüber hinaus ist Bildung unverzichtbar. Der Chancenkredit könnte Menschen in die Lage versetzen, Bildungsgüter nachzufragen, mit denen sich Defizite ausgleichen bzw. Kompetenzen aneignen lassen. Ungelernte bekämen erweiterte Möglichkeiten, einen (späteren) beruflichen oder schulischen Abschluss zu machen, Weiterbildungsangebote und Kurse für die eigene berufliche Entwicklung ließen sich finanzieren, Menschen könnten aber auch einfach neue Dinge lernen, seien es Sprachen oder die kompetente Bedienung eines Computers. Das bislang sehr beschränkte System der Bildungsgutscheine für Arbeitnehmer und Arbeitslose (heutzutage eine sogenannte Kann-Leistung der Bundesanstalt für Arbeit) ließe sich umfassend ausweiten auf alle Gruppen und Lebensphasen, je nach Ermessen der Bürger. Die Gesellschaft insgesamt könnte intellektuelle Potenziale, die derzeit oft brachliegen, weitaus effizienter ausschöpfen, was einen enormen Wissenssprung nach vorn auslösen würde. Eine Kultur des lebenslangen Lernens würde zudem die Anreize erhöhen, neue Bildungsangebote zu entwickeln. Für (Fach-)Hochschulen wäre es dann attraktiv, Berufstätige einzuladen und innovative Formen der Wissensvermittlung auszuprobieren. Menschen, denen heute noch Fortbildungsmaßnahmen von den Arbeitsagenturen diktiert werden, könnten aus einem breiteren Angebot auswählen und so ungewollten und ineffizienten Kursen und Schulungen ausweichen. Wir wissen, dass Menschen viel motivierter an Weiterbildungsmaßnahmen herangehen, wenn sie sich selbst dazu entschlossen haben, was auch positive Auswirkungen auf die Ergebnisse hat.
Lebenschancen als Zeitsouveränität
Der zweite große Bereich, in dem der Lebenschancenkredit neue Türen öffnen könnte, lässt sich unter dem Begriff der Zeitsouveränität fassen. Viele Menschen befinden sich heute in einer Situation, in der sie starre Arbeitszeiten und private Anforderungen permanent ausbalancieren müssen. Es entstehen als sehr belastend empfundene Vereinbarkeitsprobleme. Schaut man auf konkrete Lebensläufe, fällt auf, dass sich diese in unterschiedliche Belastungsphasen unterteilen lassen. Insbesondere in der sogenannten »rush hour« des Lebens, der Phase, in der Berufseinstieg und Familiengründung zusammenfallen, ist Zeit ein knappes Gut. Dieser Stresstest endet nachgewiesenermaßen für viele im Burn-out.
Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass berufliche Aufstiege häufig mit Kinderlosigkeit einhergehen und dass Kinder vor allem bei Frauen zum Karrierekiller werden können. Mit ihrer eingeschränkten zeitlichen Verfügbarkeit und Flexibilität können Familienmütter (und zunehmend auch -väter) kaum mithalten. In der Arbeitswelt existiert mittlerweile eine Art Trennwand, die nicht länger in erster Linie zwischen Frauen und Männern verläuft, sondern zwischen Arbeitnehmern mit und ohne Kinder. Kein Wunder also, dass Familiengründungen häufig als Risiko empfunden werden und viele die zeitliche Verdichtung scheuen. Insbesondere Mittelschichtfamilien mit zeitlich unstandardisierten und ins Private hineinreichenden Berufsanforderungen sind hier im Nachteil. Noch schwieriger wird es, wenn bereits in dieser Phase Eltern gepflegt oder anderweitig betreut werden müssen (mehr als zwei Millionen Erwerbstätige haben in Deutschland Angehörige, die sie zu Hause pflegen). Vollzeitpflege und Erwerbsarbeit schließen sich jedoch tendenziell aus. Inzwischen hat auch die Bundesregierung erkannt, dass hier Handlungsbedarf besteht, und mit der Verabschiedung des Familienpflegezeitgesetzes im Oktober 2011 auf
diese komplexe soziale Herausforderung reagiert. Danach können Arbeitnehmer bis zu zwei Jahre ihre Arbeitszeit reduzieren, um Angehörige zu pflegen. Verringert man beispielsweise seine Arbeitszeit um die Hälfte, werden weiterhin 75 Prozent des Lohns
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