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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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Dass Arbeitgeber auf Flexibilität achten und die Sicherheit vernachlässigen, ist nicht überraschend. Doch genau deshalb ist hier der Staat gefragt. Wir schielen immer auf das arbeitslosenarme Dänemark, ein Land mit relativ schwachem Kündigungsschutz – Unternehmen können dort sehr einfach heuern und feuern –, übersehen dabei allerdings häufig, auf welche Weise der Staat die Menschen dort absichert. Die Arbeitslosenunterstützung ist so generös wie in keinem anderen europäischen Land: Dänen, die ihren Job verlieren, erhalten bis zu vier Jahre lang 90 Prozent ihres letzten Gehalts. Allerdings gibt es dabei Obergrenzen: Ein Ingenieur, der relativ gut verdient hat, bekommt beispielsweise nur 60 Prozent, während Menschen mit geringerem Einkommen einen höheren Lohnersatz bekommen. Das bedeutet: Gerade Personen in den untersten Lohngruppen haben im Notfall nur einen geringen Einkommensverlust zu verzeichnen. Diejenigen, die das höchste Arbeitslosigkeitsrisiko tragen, erhalten auch die höchsten Kompensationen. Und wer keinen Anspruch auf Mittel aus der Arbeitslosenversicherung hat, kann auf die steuerfinanzierte Sozialhilfe der Kommunen zurückgreifen. Genau diese Verbindung aus Flexibilität und Sicherheit hat den dänischen Arbeitsmarkt flott gemacht, nicht ein zum Fetisch gewordenes Lohnabstandsgebot. Aus vergleichenden Studien wissen wir, dass sich die Dänen im Hinblick auf Arbeitsplätze und soziale Sicherung besonders gut geschützt fühlen – trotz des deregulierten Arbeitsmarkts (Mau et al. 2011). Eine Verunsicherung, wie wir sie von Deutschlands Mittelschicht kennen, ist im nördlichen Nachbarland nicht auszumachen. Wo es gelingt, elegante Arrangements der Sicherheit zu konstruieren, erweitern sich die Lebenschancen der Menschen fast automatisch.
    Nach Bildung und Arbeitsmarkt möchte ich einen weiteren Bereich erwähnen, der den Chancenhaushalt einer Gesellschaft entscheidend bestimmt: die private Überschuldung und
der rechtliche Umgang mit diesem Phänomen. Die Zahl der überschuldeten Haushalte hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Immer mehr Menschen, auch aus der Mittelschicht, sitzen in der Schuldenfalle (Institut für Finanzdienstleistungen e. V. 2010). Gescheiterte Unternehmer sind darunter, Menschen, die sich beim Immobilienkauf vertan haben, Männer und Frauen in Trennungssituationen mit plötzlich wachsenden Verbindlichkeiten. 2010 waren in mehr als 40 Prozent der Fälle Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder gescheiterte Selbstständigkeit die Ursache der misslichen Lage (ebd.). Verschuldet sind insbesondere Alleinerziehende und Familien mit Kindern, die Schwierigkeiten haben, ihren alltäglichen Bedarf zu decken. Auch die rapide Zunahme des elektronischen Zahlungsverkehrs ist gefährlich, weil Menschen so schneller den Überblick über ihre Ausgaben verlieren. Der Kreditkartenkonsum und das Einkaufen via Internet sind die wichtigsten Praktiken des »Konsumiere jetzt und bezahle später«. Viele Experten und Initiativen setzen neben der Schuldnerhilfe auf finanzielle Bildung, in den USA spricht man von »financial literacy«, also von ökonomischen »Alphabetisierungskampagnen«. Überschuldung ist dabei nicht nur ein volkswirtschaftliches Problem, sie beschädigt nachhaltig die Lebensoptionen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Schulden bedeuten immer auch einen Mangel an sozialer Teilhabe, sie gehen oftmals mit gesundheitlichen Einschränkungen einher und führen zu Exklusion.
    Der Überschuldungsreport des Instituts für Finanzdienstleistungen (iff), eine jährliche Studie zur Situation überschuldeter Haushalte in Deutschland, kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen dem Ereignis, das die Überschuldung auslöst (Arbeitsplatzverlust, Erkrankung, Scheidung usw.), und dem Zeitpunkt, an dem die Betroffenen sich wirtschaftlich rehabilitiert haben und wieder auf eigenen Beinen stehen, im Schnitt 14 Jahre vergehen. Aus der Perspektive einer Politik der Lebenschancen betrachtet, ist das ganz eindeutig zu lang. Die Neuordnung der
Verbraucherinsolvenz vor mehr als zehn Jahren hat zwar kleine Verbesserungen gebracht, diese sind jedoch nicht ausreichend. Bis der Schuldner von der Restschuld befreit wird, muss er eine sechsjährige »Wohlverhaltensphase« durchstehen (früher betrug die Frist gar 30 Jahre), in anderen europäischen Ländern geht das deutlich schneller. Auch in den Vereinigten Staaten ermöglicht man den Menschen früher und unbürokratischer einen fresh start . Auch

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