Lebenschancen

in Deutschland sollten wir das Verhältnis zwischen den berechtigten Interessen der Gläubiger und der schädigenden Wirkung anhaltender Verschuldung neu austarieren. Wir können es uns nicht leisten, Menschen dauerhaft in Situationen zu bringen, in denen sie keinerlei Entwicklungsperspektiven mehr haben. Daher brauchen wir eine schnellere Weichenstellung in Richtung Rehabilitation.
    Der Lebenschancenkredit: Ein Vorschlag für die Praxis
    In der Diskussion über Sozialleistungen kommen vor allem zwei Prinzipien zur Sprache, die Transfers rechtfertigen sollen: das Leistungs- bzw. Beitragsprinzip und das der Bedürftigkeit. Beitragsprinzip heißt: Wer von seinem Lohn oder Gehalt etwas in den großen Topf eingezahlt hat, bekommt im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter etwas zurück. Dieses Prinzip kommt vor allem im Bereich der Sozialversicherungen zum Einsatz. Bedürftigkeitsprinzip bedeutet, dass der Staat Menschen in Form von Fürsorgeleistungen (etwa der Sozialhilfe) beispringt, wenn sie in Notsituationen geraten oder anderweitig ihren Bedarf nicht mehr decken können.
    Angesichts der vorherrschenden Fokussierung auf diese beiden Prinzipien dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass auch andere Modelle existieren, die den Zugang zu Leistungen bestimmen können. Eine ganz wichtige Alternative stellt zum Beispiel das Anrechtsprinzip dar. Nach dieser Logik haben alle Mitglie
der einer Gemeinschaft (unabhängig von früheren Beiträgen oder akuten Notlagen) qua Zugehörigkeit einen Anspruch auf Unterstützung und Förderung. Wir kennen dieses Prinzip aus bestimmten Teilbereichen, man denke etwa an das Kindergeld: Der Staat garantiert Eltern hier ohne Vorbedingungen einen Anspruch auf finanzielle Transfers.
    Diese universell orientierte Anrechtslogik kann man freilich auch sehr breit verstehen und an die Idee der Lebenschancen koppeln. Genau an diesem Punkt setzt ein Konzept an, das ich an dieser Stelle zur Diskussion stellen möchte: der Lebenschancenkredit . Der Lebenschancenkredit stellt Menschen einen bestimmten Geldbetrag zur Verfügung, über den sie mehr oder weniger frei verfügen können. Der Chancenkredit sollte für alle Bürger gleich hoch sein, unabhängig vom aktuellen Bedarf oder sonstigen Erwägungen. Denkbar ist eine Größenordnung zwischen 30 000 und 60 000 Euro. Allerdings sollte das Guthaben nur in bestimmten Bereichen verwendet werden, bei denen wir auch ausgehen können, dass sie unmittelbar auf die Lebenschancen Einfluss haben. Das Guthaben sollte von den Menschen genutzt werden, um sich weiterzubilden, neue soziale Risiken abzufedern oder Zeit für Pflege und Erziehung zu gewinnen. Da Menschen oft am besten wissen, wann und wofür sie Unterstützung brauchen, wird ihnen mit einem derartigen Anrechtskredit deutlich mehr Entscheidungsspielraum eingeräumt als bei konventionellen Transferprogrammen, allerdings sollte die letztliche Freigabe durch ein spezielles Beratungsgremium erfolgen. Der Lebenschancenkredit kann als neues sozialpolitisches Instrument auf der Grundlage des universellen Anrechtsprinzips verstanden werden.
    Kredit heißt hier nicht, dass man die Summe nach einer bestimmten Zeit wieder tilgen muss, sondern ich verstehe den Begriff im Sinne von »etwas gut haben«, als Guthaben. Eine »Rückzahlung« erfolgt allenfalls darüber, dass man sich in der Gesellschaft entwickelt. Aus meiner Sicht sollte der Lebenschan
cenkredit ab dem 25. Lebensjahr (oder dem 18. Lebensjahr) abrufbar sein. Denkbar wäre auch eine Staffelung über den Lebenslauf, bei der zu Beginn jeder Lebensdekade ein fester Beitrag gutgeschrieben wird.
    Wie gesagt, der Kredit ist universell, macht also keine Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen. Das ist einerseits wichtig, um die Akzeptanz und die Finanzierungsbasis zu sichern, andererseits geht es hier nicht um die Frage aktueller Mangellagen. Auch wenn die Lebenschancen qua Geburt ungleich verteilt sind, so gibt es doch in fast jedem Lebenslauf prekäre Passagen und außergewöhnliche Herausforderungen, die sich durch einen Rückgriff auf den Kredit besser bewältigen ließen. Da wir heute nicht sagen können, wer den Kredit wirklich benötigen wird, ist der universelle Zuschnitt der einzig mögliche. In der Bilanz eines Lebens wird er für manche ganz entscheidend sein, für andere weniger, aber wichtig ist, dass alle dieses Anrecht genießen können. Und es wird letztlich auch so sein, dass einige Gruppen mit dem Kredit vor allem