Lebenslänglich
ich mehr Verantwortung übernehme, damit Thomas freihat.
«Okay», sagte sie langsam. «Ich komme. Wie viel Uhr?»
Sie bekam die Adresse und legte auf, mit dem brennenden Gefühl der Niederlage in der Brust.
Ich will, dass du voller Sehnsucht bist, wenn du anrufst. Voll! Aus der Kneipe!
Ihr war plötzlich speiübel. Sie wollte gerade aufstehen und ins Bad gehen, um sich den Finger in den Hals zu stecken, als das Telefon schon wieder klingelte.
«Aufhören, verdammt!», schrie Annika den Apparat an und schmiss ihn durchs Zimmer. Der Hörer fiel herunter und schlidderte über die Dielenbretter, so weit die Schnur reichte. Annika schlug sich die Hände vors Gesicht und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an.
«Hallo? Hallo?»
Jemand rief in den Hörer, es klang nach einer Frau.
Wenn das Anne ist, fahre ich in die Artillerigatan und schlag sie tot.
Sie robbte zum Telefon hinüber, presste die Hand gegen die Brust und griff nach dem Hörer. Das Blut war durch den Verband gedrungen.
«Hallo?», sagte sie mit erstickter Stimme.
«Hallo?», antwortete eine helle Frauenstimme. «Ist dort Annika Bengtzon?»
«Ja», flüsterte Annika, «am Apparat.»
«Hier ist Julia Lindholm. Man sagte mir, dass Sie angerufen haben und gerne herkommen wollen.»
Annika setzte sich auf und versuchte, durchzuatmen.
«Oh», stieß sie hervor, «ja, ja, das würde ich gern.»
«Ich habe einen Jungen bekommen», sagte Julia. «Was ist es bei Ihnen geworden?»
Annika schloss die Augen.
«Ein Mädchen. Sie heißt Ellen.»
«Wohnt sie bei Ihnen?»
Sie starrte in die Schatten, die die Wohnung eingenommen hatten.
«Manchmal», antwortete sie. «Wir … lassen uns scheiden.» «Wie traurig.» «Ja, schon …»
Sie räusperte sich und riss sich mühevoll zusammen.
«Ich arbeite immer noch beim
Abendblatt.
Ich weiß, dass morgen das Urteil gesprochen wird», sagte Annika. «Aber ganz egal, wie es ausfällt, ich glaube, dass Sie unschuldig sind. Ich würde gerne mit Ihnen darüber reden.»
In der Leitung blieb es stumm.
«Wieso glauben Sie das?»
«Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie Ihnen gern, wenn Sie möchten.»
«Sie können morgen früh hierherkommen, wenn Sie wollen. Ich kann ab 8 Uhr Besuch empfangen.»
«Ich komme», sagte Annika.
DONNERSTAG, 2. DEZEMBER
Anne Snapphane ging die Vasterlanggatan entlang und blieb vor der Nummer 30 stehen. Sie blickte die Hausfassade hinauf und sah, dass in einigen Fenstern im zweiten Stock Licht brannte. Vielleicht war Annika in einem der erleuchteten Zimmer, denn irgendwo in diesem Haus wohnte sie.
Sie ist bestimmt schon wach, sie war schon immer eine Frühaufsteherin.
Den ganzen Herbst hindurch war Anne hier vorbeigegangen, jeden einzelnen Tag, seit sie sich bei den anderen freien Jounalisten im Büro am Tyska brinken eingemietet hatte. Fast jeden Tag hatte sie vor diesem Haus gestanden und hinaufgeschaut und überlegt, ob sie klingeln sollte. Sie vermisste Annika. Jedes Mal, wenn sie sich beim Schreiben eines Artikels festgefahren hatte oder an einen Interviewpartner nicht herankam, ertappte sie sich dabei, wie sie schon die Hand nach dem Telefon ausstreckte. Annika gelang immer alles im Handumdrehen, Anne hatte nie begriffen, wie sie das machte. Und wenn das Leben ihr mal wieder übel mitspielte und die Kerle sie sitzenließen, vermisste Anne ihre Freundin besonders schmerzlich, denn sie hatte immer Kaffee und dunkle Schokolade im Haus und fast immer ein paar neue Stiefel, die einen glücklich machen konnten.
Ihre Karriere als Vortragsrednerin war im Herbst ins Stocken geraten. Es war ihr nicht gelungen, einen neuen Vortrag auf die Beine zu stellen, und die Agentur hatte daraufhin nichts mehr von sich hören lassen. Auch gut. Sie brauchte Zeit für sich selbst, um nachzudenken und zu reifen. Der ewige Stress, in den Medien präsent zu sein und ein bekanntes Gesicht zu bleiben, war reine Äußerlichkeit; sie hatte beschlossen, nach den inneren Werten zu suchen, denen, die aus ihr einen guten Menschen machten. Sie wollte ihre besten Jahre genießen, und dazu musste sie sich von den Menschen befreien, die ihr die Energie raubten, jene, die wie kleine Steine in den Schuhen drückten und stachen.
Annika war die, mit der sie wirklich reden musste. Tatsächlich hatte sie schon seit dem Sommer versucht, ein Gespräch mit ihr zustande zu bringen. Sie hatte E-Mails geschickt und angerufen, ohne jedoch eine Antwort zu bekommen.
Sie fröstelte, und das lag nicht nur an dem
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