Lebenslang Ist Nicht Genug
schlängelte sich durch das Gewirr von Leibern, wobei sie es sorgsam vermied, auf eine der portugiesischen Galeeren zu treten, die von der Flut an Land gespült worden waren. Sie hatte es immer amüsant gefunden, daß diese schädlichen kleinen Kreaturen sich proportional zu den Touristenströmen zu vermehren schienen. Gail machte einen Bogen um zwei täuschend harmlos wirkende, hübsche blaue Blasen und marschierte zielstrebig ins Wasser.
Es war kälter, als sie erwartet hatte, und sehr dunkel. Ungestüm überrollten die Wellen einander, schlugen mit gewaltiger Kraft gegen ihren Körper und warfen sie um. Ihre Füße verloren den Halt, sie spürte den starken Sog der Unterströmung, ließ sich kampflos mit fortreißen und von der Küste abtreiben. Widerwillig kam sie abermals auf die Füße, wurde jedoch Sekunden später von der nächsten Woge umgerissen und weiter aufs Meer hinausgetragen. Durch nasse Wimpern spähte sie zum Horizont und fragte sich, was sie wohl empfinden würde angesichts einer verräterischen Flosse.
Sie bemerkte ihn erst, als er schon fast über ihr war.
»Was, zum Teufel, machst du hier draußen?« keuchte Jack fassungslos. »Hast du denn das Schild nicht gelesen?« Unsanft zerrte er sie ans Ufer zurück.
»Andere schwimmen doch auch«, verteidigte sie sich zaghaft.
»Ja, vor allem Haie!« Er zog sie am Ellbogen aus dem Wasser. Gail stolperte und wäre beinahe gefallen. »Warum mußtest du ausgerechnet heute im Meer schwimmen? Das hast du doch noch kein einziges Mal gemacht, seit wir hier sind.«
»Deswegen dachte ich ja, es sei allmählich Zeit. Ich hielt es wirklich nicht für gefährlich.«
»Gail, wir kommen schon seit Jahren hierher. Hast du jemals zuvor so ein Schild gesehen? Nein! Wenn nun plötzlich eins da ist, heißt das doch, daß Gefahr bestehen muß!«
Gail schwieg.
»Wollen wir ein Stück gehen?« fragte er, und als sie nicht antwortete, setzte er hinzu: »Ich meine, ein Spaziergang wird dir guttun.«
Sie gingen eine ganze Weile schweigend am Strand entlang. Gail hielt immer wieder nach Haien Ausschau, konnte aber keine entdecken. Ihr fiel auf, daß heute nicht ein einziger Surfer auf dem Wasser war. Sie fröstelte.
»Ist deine Mutter fertig mit Packen?« fragte Jack, nur um das beklemmende Schweigen zu brechen.
»Ich glaube schon. Mein Vater bestand natürlich darauf, in den letzten Stunden vor der Abreise noch die Sonne zu genießen.«
»Sie sind länger mit uns zusammengeblieben, als sie ursprünglich vorhatten.«
»Es war schön, sie wiederzusehen«, sagte Gail, die jedoch in Wahrheit froh war, daß ihre Eltern endlich abreisten. Anfangs hatte sie das Zusammensein mit ihnen wirklich genossen, doch schon bald fühlte sie sich durch ihre Fürsorge eingeengt und litt vor allem unter den dauernden Sticheleien ihres Vaters. Sie fühlte sich wieder in die Rolle des Kindes gedrängt und verstand zum erstenmal, was Jennifer in den letzten Monaten zu Hause empfunden haben mußte.
»Paß auf«, mahnte Jack, als Gail um ein Haar auf eine purpurfarbene portugiesische Galeere getreten wäre. »Dieses Biest sieht ganz so aus, als könne es einen Menschen ernsthaft verletzen.« Er beugte sich nieder, um das Tier genauer zu untersuchen. Gail betrachtete die große pralle Blase mit ihren langen, dünnen Tentakeln und versuchte sich vorzustellen, was für ein Gefühl es sei, von ihr gestochen zu werden, zu spüren, wie das Gift in die Adern strömte. Jede Wohnanlage hielt am Swimming-pool irgendein Gegenmittel für solch einen Unglücksfall bereit. Angeblich linderte dieses Zeug den Schmerz. Aber oft mußte jemand, der gestochen worden war, auch unverzüglich ins Krankenhaus. Das hing ganz davon ab, wie schwer die Verletzung war.
Gail sah wieder hinaus aufs Meer, folgte mit den Blicken dem stürmischen Rhythmus der Wellen. Als sie merkte, daß Jack gedankenverloren den Horizont betrachtete, schaute sie verstohlen wieder hinunter auf das Ungeheuer zu ihren Füßen. Langsam hob sie den linken Fuß und setzte ihn mitten auf die glitschige Blase.
Jack begriff nicht gleich, was geschehen war. Gail rührte sich nicht. Weder schrie sie auf noch griff sie haltsuchend nach seinem Arm. Sie tat gar nichts, weil sie zunächst überhaupt nichts spürte. Einen Augenblick lang war sie versucht zu glauben, all die
schrecklichen Geschichten über diese gefährlichen Ungeheuer seien genauso aus der Luft gegriffen wie die Sage von dem versunkenen Highway.
Dann spürte sie auf einmal ein
Weitere Kostenlose Bücher