Lebenslang Ist Nicht Genug
Stunde zurück.«
»Laß dir nur Zeit.« Gail sah ihm nach, wie er über die grasbewachsenen Dünen an den Strand hinunterging. Dann drehte sie sich nach ihrem Vater um. Er hielt die Augen geschlossen. Seine Haut war fast genauso braun und faltig wie seine Badehose. Es hatte beinahe den Anschein, als fordere er die Sonne heraus, ihm zu schaden. Gail lehnte sich zurück und betrachtete die Leute ringsum.
Stimmen näherten sich, und als Gail den Kopf wandte, sah sie drei unglaublich schlanke Jünglinge die Plätze auf der anderen Seite ihres Vaters einnehmen. Sie wirkten fast feminin, ihre Gesten waren theatralisch überzogen, ihre Bewegungen im höchsten Grade unnatürlich, und sie brachten jede Platitüde so vor, als sei sie von größter Wichtigkeit. Das mußten die jungen Männer sein, von denen sie neulich gehört hatte. Sie waren das Klatschthema Nummer eins im Eden Rock. Sie hatten für den Winter von der alten Mrs. Shumaker eine Wohnung gemietet. Man munkelte, einer der drei sei ihr Neffe. Die Arme, hieß es bedauernd; einen so eindeutigen Fall in der Familie zu haben mußte doch schrecklich sein.
Gail musterte die drei unverhohlen, die nur Augen füreinander hatten. Sie trugen äußerst knappe Badehosen - gewiß ein weiterer Grund für die Hausbewohner, sich zu entrüsten - und rieben sich gegenseitig so hingebungsvoll mit Sonnenöl ein, als sei das ihr Lebenswerk. Gail überlegte, ob die jungen Männer sich wohl vor AIDS fürchteten. Sie schaute weg, als einer der drei ihren Blick erwiderte, schloß die Augen zum Schutz vor der Sonne und versuchte, ihre Unterhaltung zu ignorieren. Aber die Stimmen waren so laut und affektiert, daß man sie gar nicht überhören konnte. Gail lauschte ihrem Gespräch wie ein Schauspielschüler, der seine Kollegen abhört.
»Den schwersten Schlag«, sagte gerade einer, »versetzte mir
die Bühnenbildnerin, diese Helene van Eider, gräßliche Person. Warum sie die überhaupt engagiert haben? Da hab’ ich mir zweieinhalb Jahre lang den Hintern wundgesessen, um das verdammte Stück zu schreiben, und da erzählt mir diese Ziege, sie will den ganzen Prospekt mit Silberfolie verkleiden. Ich dachte, ich fall’ tot um.«
»Und wie habt ihr euch geeinigt?«
»Überhaupt nicht. Das Stück ist nie aufgeführt worden. Der Regisseur hatte’ne Art Nervenzusammenbruch.«
»Wer war denn der Regisseur?«
»Tony French«, kam die Antwort. Gail hatte den Namen schon gehört. French war am Broadway kein Unbekannter. Sie fragte sich, ob sie womöglich auch die Namen der drei schon auf einem Theaterplakat gelesen habe. Sie hätte sie sich gern genauer angesehen, aber die Sonne schien ihr in die Augen und blendete sie.
»Armer Tony«, seufzte der mit der höchsten Stimme. »Er hat Auschwitz einfach noch nicht überwunden.«
»Das mußt du grade sagen, Ronnie! Du hast doch noch nicht mal die Mittelschule überwunden.«
Der Bühnenautor kicherte. »Hatte auch nicht viel zu lachen auf der Schule.« Er machte eine dramatische Pause. »Aber vielleicht war’s ganz gut, daß sie das Stück abgesetzt haben. Ratet mal, wen sie für die Hauptrolle vorgesehen hatten. Ich wette, darauf kommt ihr nie!«
»Wen denn? Sag schon, los!«
»Raquel Welch! Könnt ihr euch das vorstellen? Die Welch als Sechzigjährige mit’nem total vernarbten Körper. Sie meinten, durch diese Besetzung würden sie den nötigen Schuß Sex-Appeal reinkriegen. Natürlich hab’ ich Schreikrämpfe bekommen. Als ich fragte, ob sie schon jemals von einer Sechzigjährigen mit Sex-Appeal gehört hätten, kamen sie mir prompt mit Marlene Dietrich und Mae West. Darauf sagte ich, von Mae West wisse ich bloß, daß sie tot sei. Sie schlugen selbstredend zurück und warfen
mir vor, ich hätte keine blassen Dunst von Frauen, sexy hin oder her. Ich hatte Monica Campbell für die Rolle vorgeschlagen.«
»Monica Campbell? Diesen Saurier? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Die kann doch nicht mal mehr lachen, seit sie sich das letzte Mal hat liften lassen, geschweige denn spielen.«
»Jetzt macht aber mal’n Punkt, Kinder.«
Gelächter erklang. »Du weißt doch, Ronnie, daß wir nicht zimperlich sind mit unserm Urteil.« Wieder lachten sie.
Gail ließ sich durch eine Unterhaltung zu ihrer Rechten ablenken. Hier ging es um ein weitaus alltäglicheres Thema: Wo sollte gegessen werden? »Ich geh’ nicht gern zu Bernard«, sagte eine Frau unter lautstarkem Protest ihrer Begleiterinnen. »Ich weiß, es ist euer
Weitere Kostenlose Bücher