Lebenslang Ist Nicht Genug
ihn fragen. Aber sie blieb stumm, weil sie sich vor der Antwort fürchtete.
Sie rückte noch enger an ihren Mann heran, so als könne sie dadurch die Distanz überwinden, die auf einmal zwischen ihnen bestand. Sie erkannte, daß jeder von ihnen sein Leid allein tragen mußte. All die Jahre der Vertrautheit können daran nichts ändern, dachte sie. Der Tod fordert Einsamkeit.
Sie hörte, wie ihre Eltern sich im Gästezimmer leise unterhielten. Die Besorgnis in ihren Stimmen war selbst durch die Wände erkennbar. In Gedanken lag sie wieder daheim in ihrem Kinderbett, lauschte der gedämpften Unterhaltung der Eltern, versuchte, ihre Worte zu erraten und herauszubekommen, worüber sie wohl so lachten. Jetzt lacht niemand mehr, dachte Gail.
Trotzdem empfand sie die Stimmen ihrer Eltern als wohltuend. Sie führten sie im Geiste zurück in ihre Kindheit und schenkten ihr die Illusion der Geborgenheit.
5
Sie war in einem Haus voller Musik aufgewachsen. Ihr Vater hatte den ganzen Tag gesungen. Gails Erinnerungen an ihre früheste Kindheit kreisten um den Vater, der ihr mit seinem volltönenden Bariton unzählige Lieder vorsang. Dave Harrington war ein richtiger Opernnarr. Alle seine Bekannten beneideten ihn um seine Schallplattensammlung, die mindestens drei Einspielungen aller großer Klassiker umfaßte. In einem Alter, in dem andere Kinder »Hänschenklein« singen, mühten Gail und Carol sich mit den schwierigen Arien aus »Aida« und »La Boheme« ab. Während andere Kinder vor dem Schlafengehen aus Grimms Märchen vorgelesen bekamen, gingen die beiden Schwestern zu den Klängen von »Hoffmanns Erzählungen« und »La Traviata« zu Bett.
Die Familie Harrington inszenierte zu Hause Miniopernaufführungen, bei denen der Vater stets den feurigen Liebhaber spielte, dem Carol als unglückliche Geliebte zur Seite stand. Lila Harrington, die sich eine große Tänzerin wähnte, spielte vielerlei Rollen, trug aber in fast allen lange, wehende Chiffonschals, von denen sie eine Unmenge zu besitzen schien.
Gail begleitete Eltern und Schwester am Klavier. In der Schule verriet sie kein Wort über diese Privatveranstaltungen. Wie alle Kinder genierte auch sie sich wegen der vermeintlichen Schrullen ihrer Eltern. Sie wollte ein ganz gewöhnliches Mädchen sein, so wie die anderen Kinder, deren Eltern nicht unvermittelt eine Arie anstimmten, während sie die Hausaufgaben erklärten. Carol war da ganz anders. Sie ergötzte sich an den Familienvorstellungen, bekam die Hauptrolle in jeder Schulaufführung und wollte unbedingt Schauspielerin werden. Zehn Jahre kämpfte sie nun schon darum, sich am Broadway einen Namen zu machen.
Gail hatte die Grundschule schon fast hinter sich, als sie erfuhr, daß ihr Vater nicht Opernsänger war, wie sie angenommen
und ins Klassenbuch hatte eintragen lassen, sondern Kürschner. Die Neuigkeit versetzte ihr einen Schock. Für eine Weile war sie so verunsichert, daß sie selbst dann lange zögerte, wenn sie die Antwort auf eine Frage genau kannte. Gail, die schon als Kind sehr empfindsam und ein wenig ängstlich gewesen war, wuchs zu einem auffallend schüchternen jungen Mädchen heran. Diese Entwicklung mochte zwar als Reaktion auf ihre extrovertierte Familie gedeutet werden, doch vermutlich war Gail einfach von Natur aus zurückhaltend.
Carol war das genaue Gegenteil ihrer Schwester. Gail war in sich gekehrt, Carol aufgeschlossen; Gail hielt sich unauffällig im Hintergrund, Carol heckte die übermütigsten Streiche aus; Gail vermied Auseinandersetzungen, Carol dagegen war ausgesprochen streitlustig. Sie war ein kleiner Panzer, der alles und jeden niederwalzte, der sich ihr in den Weg stellte. Freilich machte sie das auf so bezaubernde Weise, daß niemand ihr böse sein konnte, am allerwenigsten Gail, die ihre jüngere Schwester anbetete und bewunderte. Carol erwiderte ihre Liebe, und obwohl sie fast vier Jahre jünger war als Gail, beschützte sie ihre große Schwester, paßte auf sie auf und sorgte dafür, daß sie bei all dem Trubel in der Familie zu ihrem Recht kam.
Dave Harrington sang nicht nur, er war auch ein begeisterter Maler, und ab und zu machte er die verrücktesten Erfindungen. Zu Hause im Hobbyraum hingen seine zahlreichen expressionistischen, exotisch anmutenden Kunstwerke. Gail traute sich nicht, ihre Freunde dort hineinzuführen, aus Angst, sie könnten beim Anblick der zahlreichen grünen und lilafarbenen Gesichter gleich wieder davonlaufen. Als sie einmal den Mann vom Heizwerk
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