Lebenslang Ist Nicht Genug
Rock’n’ Roll seinen Siegeszug antrat?
Sie wußte nicht, wer sie zurück zum Sofa führte, ihr die Beine hochlegte und ein Kissen unter den Kopf schob. Jemand breitete eine Decke über sie. Man gab ihr ein Glas Wasser. Sie hörte, wie die Haustür sich öffnete und schloß. Es war jemand gegangen, doch ihre Lider waren so schwer, daß sie die Augen nicht öffnen konnte, um zu sehen, wer noch bei ihr war. Sie ließ sich von der Müdigkeit einhüllen, die während der letzten Tage wie ein drohendes Monster in ihren Muskeln gelauert hatte. Ehe sie in bleiernen Schlaf fiel, sah sie als letztes ihren sonnengebräunten Vater vor sich, wie er zusammengesunken in seinem Sessel hockte und zehn Jahre älter wirkte, als sie ihn vom letzten Sommer her in Erinnerung hatte.
Stimmen drangen an ihr Ohr, und sie schlug die Augen auf.
»Hallo«, flüsterte ihre Freundin Laura. Sie versuchte zu lächeln. »Wie fühlst du dich?«
Gail richtete sich auf, schob die Decke weg und setzte die Füße auf den Boden. »Wie spät ist es?« fragte sie. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Ihre Eltern, ihre Schwester und Jennifer waren nicht mehr im Zimmer. Auch der Kommissar war verschwunden. Sie fragte sich, ob sie wohl nur geträumt habe, daß all diese Leute hier in ihrem Wohnzimmer seien.
»So gegen acht«, sagte Jack. »Lieutenant Cole ist schon vor
’ner Weile gegangen. Die andern hab᾽ ich zum Abendessen in ein Restaurant geschickt.«
»Sind die Blumen von Nancy?« fragte Gail mit einem Blick auf das riesige Bukett aus Rosen und Nelken auf dem Teetisch.
Jack nickte.
»Bist du in Ordnung?« fragte Laura.
Gail atmete tief durch. »Ich weiß nicht recht. Ich fühl’ mich wie erstarrt. Wahrscheinlich kommt das von all den Medikamenten, die sie mir gegeben haben.«
»Und vom Schock«, meinte Laura.
Gail nickte schweigend. Ihr Blick irrte ziellos umher und blieb schließlich auf den Blumen haften. Rote Rosen, rosa Nelken.
»Rosa war Cindys Lieblingsfarbe.«
Laura schaute zu Boden. »Meine auch, als ich noch klein war.«
»Wirklich? Genau wie bei mir.« Ein zaghaftes Lächeln spielte um Gails Mundwinkel. »Wahrscheinlich ist es die Lieblingsfarbe aller kleinen Mädchen.«
Die Unterhaltung stockte; das Lächeln verschwand.
»Ist Nancy hier gewesen?« Gails Gedanken wanderten zurück zu den Blumen.
Jack schüttelte den Kopf.
»Du darfst nicht zuviel von Nancy erwarten«, mahnte Laura sanft.
Gail mußte beinahe lachen. »Ich hab’ nie viel von Nancy erwartet. Nancy ist eben Nancy. Jeder muß auf seine Weise mit dem Schmerz fertig werden.«
Lauras Miene wurde ernst. »Wie wirst du denn damit fertig?«
»Ich weiß nicht.« Gail schüttelte nachdenklich den Kopf, erst langsam und dann immer schneller. Plötzlich zog Laura sie in ihre Arme, legte ihr die Hand auf den Nacken und zwang sie mit sanfter Gewalt, den Kopf stillzuhalten. Gails Stirn lehnte an Lauras weicher Baumwollbluse.
»Laß ihn raus«, flüsterte Laura. »Verschließ deinen Schmerz nicht in dir.«
»Ich kann nicht.« Panik schwang in Gails Stimme mit. »Ich weiß nicht mal genau, was ich empfinde. In mir streiten so viele Gefühle miteinander.«
»Welche? Sag’s mir.«
Gails Blick glitt suchend durchs Zimmer, so als wolle sie die richtigen Begriffe von den Wänden ablesen. »Ich weiß nicht«, wiederholte sie nach einer Weile hilflos. »Wut, glaub’ ich.«
»Gut«, erwiderte Laura. »Du solltest wütend sein. Du hast jedes Recht dazu. Das ist gesund. Sei so wütend, wie’s dir paßt.«
»Aber ich bin auch böse auf mich...«
»Nein!« unterbrach Laura sie entschieden. »Gegen dich selbst empfindest du keinen Zorn. Das sind Schuldgefühle. Aber untersteh dich, dir die Schuld zu geben. Hörst du? Du hast dir nicht das geringste vorzuwerfen. Gail, sieh mich an! Schuldgefühle sind völlig sinnlos. Damit erreicht man gar nichts. Außerdem hast du keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen.«
»Du verstehst das nicht«, stammelte Gail. »Aber ich bin mitschuldig.«
»Unsinn! Du hast nichts...«
»Hör mir zu«, bat Gail, und Laura schwieg. »Ich bin ausgegangen. Zusammen mit Nancy. Ich war nicht rechtzeitig zu Hause.«
»Um Himmels willen, Gail, jede Mutter hat das Recht, ab und zu auszugehen. Außerdem hätte es nicht das geringste geändert, wenn du daheimgeblieben wärst.«
»O doch!« Gail nickte heftig. »Wenn ich nicht fortgegangen wäre, hätte mich Mrs. Hewitts Kindermädchen erreicht, als sie mir ausrichten wollte, daß sie Linda
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