Lebenslang Ist Nicht Genug
Aber du warst nie zu Hause.«
»Ich hab’ mich nach’nem Job umgesehen.« Gail begann sich sicherer zu fühlen, wenn sie log, als wenn sie die Wahrheit sagte. »Ich hatte zwar bis jetzt noch kein Glück, aber...«
»Du, das finde ich großartig. Wo hast du dich denn beworben?«
»Ach, praktisch überall.« Gail lachte. »Aber erzähl noch niemandem davon, auch Jack nicht, hörst du? Ich möchte ihn überraschen.«
»Keine Sorge, ich werde nichts verraten. Aber kann ich dir vielleicht irgendwie helfen? Brauchst du Referenzen?«
»Ich melde mich, wenn’s soweit ist.« Gail wollte das Gespräch
so schnell wie möglich beenden. »Du, entschuldige, aber ich bin auf’m Sprung.«
»Okay, laß dich nicht aufhalten. Ich wollte mich bloß vergewissern, daß du unsern Lunch nicht vergessen hast.«
»Lunch?«
»Ja doch, in Nancys Club. Weißt du’s denn nicht mehr? Wir haben schon vor Monaten vereinbart, daß wir zusammen hingehen. Heute ist der 15. Oktober, und da steigt die Modenschau in Nancys Club. Du hast mir versprochen mitzukommen.«
»Ich hab’s vergessen«, gestand Gail. »Entschuldige, aber das ist mir völlig entfallen.«
»Das ist aber’n starkes Stück. Na, macht nichts. Ich bin bloß froh, daß ich dich noch rechtzeitig erwischt habe. Ich hol’ dich gegen halb eins ab.«
»Laura, ich kann nicht mitkommen.«
»Aber natürlich kommst du mit, du hast es versprochen.«
»Ich habe einen wichtigen Termin...«
»Und ich habe zwei Plätze reservieren lassen und sie im voraus bezahlt. Du mußt mitkommen. Verschieb den Termin.«
»Ich hab’ nichts anzuziehen. Du weißt, wie aufgetakelt die in dem Club immer sind.«
»Unsinn, ich hol’ dich um halb eins ab. Du brauchst dich nicht mal umzuziehen.«
Gail hörte das Klicken in der Leitung. Sie schaute an sich hinunter. Sie trug ihre ältesten und schäbigsten Jeans und einen ausgeleierten schwarzen Rollkragenpullover. Als sie den Hörer auflegte, wünschte sie nachträglich, sie hätte das Telefon einfach klingeln lassen. Klar, dachte sie, ich brauch’ mich nicht mal umzuziehen.
Gail kämpfte mit dem Reißverschluß eines roten Leinenkleides, als es an der Haustür klingelte.
Sie blickte auf die Uhr. Es war erst zwölf, und Laura, die
ein eher unpünktlicher Typ war, sah es nicht ähnlich, eine halbe Stunde zu früh aufzutauchen.
»Laura?« fragte sie trotzdem in die Gegensprechanlage.
»Sheila«, korrigierte die kühle Stimme ihrer Schwiegermutter.
Sheila? Was mochte die von ihr wollen?
»Ich komm’ gleich runter«, versicherte Gail eilig. »Nur einen Augenblick.«
Sie zog den Reißverschluß mit einem energischen Ruck hoch und lief die Treppe hinunter. Wieso kam ihre Schwiegermutter unangemeldet vorbei? Gail öffnete die Tür. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich.
Sheila Walton trat ein. Sie trug einen dunkelbraunen Nerzmantel und zeigte eine bittere Miene. »Du bist in letzter Zeit schwer zu erreichen. Ich hab’ oft versucht, dich anzurufen, aber...«
»Jack und ich waren übers Wochenende verreist«, warf Gail ein und hoffte, ihre Schwiegermutter damit zufriedenzustellen. Ein Blick in ihr Gesicht überzeugte sie vom Gegenteil. »Und ich war sehr beschäftigt. Ich mußte oft außer Haus.«
»Das hab’ ich mir gedacht.« Sheila Walton betrachtete kritisch den alten Mantel, den Gail achtlos über einen Stuhl geworfen hatte. »Wolltest du grade wieder weggehen?«
Gail nahm den abgetragenen grauen Tuchmantel auf und hängte ihn an seinen Platz hinten im Garderobenschrank. »Natürlich nicht in dem Mantel.« Sie versuchte zu lächeln, obwohl sie sich mehr und mehr in die Enge getrieben fühlte.
»Aber du gehst aus.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»In einer halben Stunde.«
»Ich will versuchen, es kurz zu machen.«
»Bitte, komm doch ins Wohnzimmer. Darf ich dir einen Kaffee anbieten oder irgendwas anderes?«
»Nein, danke.« Sheila Walton ging vor ihr her ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. »Ich will dich nicht aufhalten. Meinetwegen
sollst du keine von deinen Verpflichtungen versäumen.«
Gail wappnete sich gegen das Klagelied von der vernachlässigten Schwiegermutter. Sie sah ein, daß Sheila dazu sogar eine gewisse Berechtigung hatte. »Entschuldige, daß ich dich nicht angerufen habe«, bat sie. »Ich hatte es vor, wirklich. Wie geht’s dir denn?« Gail hatte sich in der Gesellschaft von Jacks Mutter nie sonderlich wohl gefühlt. Sie war von Haus aus kühl und distanziert, und seit dem Tode ihres
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