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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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wahr? Oder sah er wie sie hinter jeder Gardine Cindys Gesicht, in jeder Fensterscheibe ihre Augen? Hörte auch er das unbekümmerte Lachen ihrer Tochter im Gelächter der Vorübergehenden?
    »Dieses Haus haben sie neu gestrichen«, sagte er unvermittelt.
    »Wie?«
    »Das Haus da drüben. Das zweitletzte vor der nächsten Querstraße. Sie haben’s weiß gestrichen. Es war früher blau, weißt du nicht mehr?«
    »Schade, mir hat es blau besser gefallen.«
    »Mir auch.«
    »Wahrscheinlich wollten die Besitzer zur Abwechslung mal was anderes.«
    »Und bei dem Haus da vorne hat man die Bäume gefällt.« Jack deutete auf einen Vorgarten auf der anderen Straßenseite.
    »Es ist hübscher so«, sagte sie, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wie der Garten früher ausgesehen hatte.
    »Findest du?« Es klang verwundert. »Mir hat’s mit Bäumen besser gefallen.«
    »Aber so kriegt das Haus mehr Sonne.«

    »Das stimmt wohl.« Er zuckte die Achseln und atmete tief ein. »Ach, ich liebe den Geruch dieser Stadt.«
    Gail holte tief Luft, wie Jack es getan hatte, aber sie spürte gleich darauf ein scharfes Stechen in der Brust.
    »Fühlst du dich nicht wohl? Sollen wir umkehren? Oder möchtest du irgendwo einen Kaffee trinken?«
    »Nein, der Spaziergang tut mir gut.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen überzeugenden Klang zu geben, wußte sie doch, daß er sich nicht mehr so leicht täuschen ließ.
    »Wie wär’s, wenn wir runter zum Strand gingen?« schlug er vor.
    »Einverstanden.«
    »Wird es auch nicht zu kühl sein für dich?«
    »Ach wo, und wenn, können wir ja jederzeit umkehren.« Daß ihnen wenigstens in diesen kleinen Dingen noch eine Wahlmöglichkeit geblieben war, tröstete sie ebenso wie die belanglose Plauderei, in die sie sich zuvor geflüchtet hatten.
    Er sollte recht behalten - es war kühl am Strand, ja sogar unfreundlich, auch wenn sie beide für eine Weile so taten, als spürten sie es nicht. Jack hat ein so liebenswertes Gesicht, dachte Gail und betrachtete sein Profil, die vorspringende Nase, die vom Wind geröteten Wangen.
    Ein junges Paar kam ihnen entgegen und nickte ihnen im Vorbeigehen zu. Die Gesichter der beiden waren zum Schutz gegen die Kälte tief in den Mantelkrägen vergraben.
    »Diese verrückten Touristen!« Jack lachte. »Kein Einheimischer würde auf die Idee kommen, bei der Kälte am Strand spazierenzugehen.«
    Gail sah dem anderen Paar nach, das durch den Sand davoneilte. Sie versuchte sich an die Stelle der Frau zu versetzen und überlegte, was die wohl dachte, während sie Arm in Arm mit ihrem Mann den Strand entlangwanderte, so wie Gail neben Jack ging. Ein ganz normales amerikanisches Ehepaar, vielleicht denkt die Frau jetzt genauso über Jack und mich nach, wie ich
über sie. Gail versuchte zu erraten, welche Geheimnisse sich hinter den rosigen Wangen und den lächelnden Augen der Frau verbargen, denn jeder Mensch hatte Geheimnisse, das hatte sie inzwischen gelernt. Geheimnisse und Narben. Gail wußte, daß die Dinge nur selten so waren, wie sie zu sein schienen. Glück war nur die Illusion eines Augenblicks. Versetze dich eine Stunde lang an meine Stelle, dachte Gail. Und dann fiel ihr ein: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.
    Sie verscheuchte die unwillkommenen Gedanken mit einem Schulterzucken. Jack legte den Arm um sie und zog sie fest an sich, um sie zu wärmen.
    »Laß uns umkehren«, sagte er. »Mir reicht’s.« Gail nickte schweigend. »Nicht ganz dasselbe bei der Kälte, hm?«
    Gail antwortete nicht. Sie wußten es ohnehin beide. Die Witterung hatte nichts damit zu tun, daß Cape Cod nicht mehr dasselbe war.
     
    Sie gingen zurück in ihre Pension, wo sie sich eine Weile mit Mrs. Mayhew unterhielten. Sie habe sich Sorgen um sie gemacht, als sie im Sommer nicht wie gewöhnlich gebucht hätten. Das Geschäft sei allgemein nicht sonderlich gut gewesen. Die Bewohner der Halbinsel machten die allgemeine Wirtschaftslage dafür verantwortlich. Überall im Lande gingen die Geschäfte schleppender. Was solle man da machen?
    Sie erkundigte sich nach Jacks Praxis - ob er auch unter den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen litt? Jack antwortete, Tiere würden nach wie vor krank, aber auch er habe bemerkt, daß die Leute Einsparungen machten, etwa wenn es um exklusive Tierpflege ging. Dann fragte Mrs. Mayhew nach ihren Kindern. Jack erklärte leise, sie hätten einen Todesfall in der Familie gehabt, ihre kleine Tochter sei gestorben. Er verschwieg, wie Cindy

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