Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
Vom Netzwerk:
einzigen Enkelkindes hatte sie sich noch mehr zurückgezogen. Ihre Reserviertheit hatte Gail früher nicht gestört, wußte sie doch von Jack, daß seine Mutter allen Menschen so begegnete. Seit dem Hinscheiden ihres Mannes - sie gehörte zu den Leuten, die das Wort »sterben« nicht in den Mund nehmen - hatte sie ausgedehnte Reisen unternommen, darunter zwei Kreuzfahrten rund um die Welt, und wann immer ihr der heimische Trott auf die Nerven ging, entfloh sie nach Europa oder in den Orient.
    »Danke, mir geht’s gut, und dir?«
    »Ich kann nicht klagen. Wie war deine Reise?«
    »Japan ist immer ein Erlebnis. Aber ich bin schon seit Wochen zurück. Ich hab’ mit Jack gesprochen und dir Grüße ausrichten lassen. Aber du warst anscheinend zu beschäftigt, um zurückzurufen...«
    »Sei mir nicht böse. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber ich hatte in letzter Zeit wirklich furchtbar viel um die Ohren.«
    »Wo gehst du denn heute hin?« Es klang fast wie ein Vorwurf.
    »Eine Freundin hat mich zum Mittagessen eingeladen. Laura. Ich glaube, du hast sie mal bei uns kennengelernt.«
    »Ja, die Blonde. Sehr attraktive Frau. Ich wußte gar nicht, daß du gesellschaftlich so aktiv bist. Für mich warst du immer das Hausmütterchen, das stillvergnügt in der Küche sitzt und darauf wartet, daß die Kinder aus der Schule heimkommen. Ich hielt dich für die vollkommene Mutter...«

    »Ich habe nie behauptet, daß ich vollkommen sei«, verteidigte sich Gail. Ihr war unbehaglich zumute, und sie fragte sich, wohin diese Unterhaltung führen werde.
    »Aber nun gehst du mittags auswärts essen«, fuhr Mrs. Walton fort, ohne Gails Einwand zu beachten. »Du bist zu beschäftigt, um die Mutter deines Mannes nach einer langen Reise auch nur anzurufen und zu fragen, wie es ihr geht. Du mußt Freundinnen treffen, Verpflichtungen wahrnehmen.« Sie brach unvermittelt ab. »Du warst an dem Nachmittag einkaufen, nicht?«
    »An welchem Nachmittag?« fragte Gail, obwohl sie die Antwort kannte.
    »An dem Nachmittag, an dem Cindy verschied«, sagte Sheila Walton, und Gail spürte, daß sie schon lange auf diesen Augenblick gewartet hatte.
    »Was willst du damit sagen?« Gail begann zu zittern. »Daß ich schuld bin? Daß ich sie auf dem Gewissen habe?«
    »Natürlich nicht.« Sheila Walton schien zu begreifen, daß sie zu weit gegangen war. »Ich stelle nur fest, daß du mehr persönliche Interessen hast, als ich mir vorgestellt hatte. Und ich finde es tragisch, daß du ausgerechnet an dem bewußten Nachmittag mit einer Freundin ausgehen und Kleider kaufen mußtest.« Sie schluckte und blickte zur Tür. »Damit sage ich gewiß nichts, was du dir nicht selbst schon hundertmal vorgehalten hast.«
    Gail sah sich hilflos im Zimmer um. »Warum tust du mir das an?« fragte sie. Hundertmal? Hunderttausendmal träfe wohl eher zu, dachte sie.
    »Mein einziges Enkelkind ist nicht mehr am Leben.«
    »Ein Kind, das du höchstens zwei-, dreimal im Jahr gesehen hast.« Gail stellte mit Befriedigung fest, daß ihr Pfeil ins Schwarze getroffen hatte.
    »Deine Eltern haben sie auch nicht öfter gesehen«, konterte Sheila Walton, als sei damit alles wieder im Lot.
    »Meine Eltern leben in Florida. Aber du wohnst gleich um die Ecke!«

    »Wage ja nicht, mir vorzuwerfen, ich hätte mein Enkelkind nicht geliebt!«
    »Das hab’ ich nie behauptet.«
    »Ich liebte es sehr.«
    »Sicher.«
    »Ich hätte sie nicht allein von der Schule nach Hause gehen lassen, darauf kannst du dich verlassen. Meinen Sohn habe ich nie solchen Gefahren ausgesetzt. Ich habe darauf geachtet, daß ihn immer jemand abholte, und ich hätte auch darauf geachtet, daß Cindy nicht allein gegangen wäre. Ich hätte mich nicht zu meinem Vergnügen rumgetrieben, statt...«
    »Warum sagst du nur so etwas?« Gail ertrug es nicht länger, zuzuhören.
    »Wie kannst du es wagen!« Sheila Walton funkelte ihre Schwiegertochter über den Tisch hinweg an. »Wie kannst du es wagen, mir zu unterstellen, ich hätte mein Enkelkind nicht geliebt.«
    »Ich habe dir überhaupt nichts unterstellt.« Gail schluchzte.
    »Wie kannst du es wagen«, zischte Sheila Walton aufgebracht.
    »Ich bitte dich, geh, bevor noch schlimmere Worte fallen.«
    »Ach ja, dein Lunch! Den hätte ich beinahe vergessen.«
    Gail stürzte sich auf ihre Schwiegermutter und zerrte sie vom Sofa hoch. »Raus hier!« schrie sie außer sich vor Wut und Schmerz. »Mach, daß du rauskommst, oder ich bring’ dich um. Hast du mich verstanden?

Weitere Kostenlose Bücher