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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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zurückbringen können, dann wäre er durchs Zimmer marschiert. Seine Mutter langte über seinen Körper und nahm die Hand des Mädchens. Mit der freien Hand streichelte sie die kurzgeschnittenen Locken ihres Sohnes. »Er ist so ein guter Junge«, sagte sie. »Er sieht aus, als würde er schlafen.«
    Louise sagte: »Ja, das tut er.« Er tat es nicht. Er sah nicht aus, als würde er schlafen, niemand sah so aus, wenn er schlief, aber na und.
    Er war bereits gegangen, er wartete nur noch, dass sie sich von ihm verabschiedeten. In die Unendlichkeit und weiter.

Nette kleine Frau, süßes kleines Baby
    L assie kam nach Hause. Letztlich musste ihr niemand helfen. Sie schaffte es ganz allein.
    Es war noch nicht hell, deswegen war schwer zu erkennen, wer es war. Nur eine Gestalt, eine Gestalt, die sich näherte. Aber der Hund wusste, wer es war.
    Reggie fiel fast in Ohnmacht. Ihr war übel von den vielen chemischen Stoffen, die ihren Körper überfluteten. Ein großer Wasserfall Adrenalin floss durch sie, und das Herz in ihrer Brust fühlte sich an wie ein fester harter Knoten. So viele Gefühle überwältigten Reggie, dass sie sie kaum entwirren konnte. Erleichterung und Ungläubigkeit. Glück. Und Entsetzen. Riesengroßes Entsetzen.
    Dr. Hunter kam auf sie zu, das Baby in den Armen. Sie war barfuß und trug immer noch ihr Kostüm, und das Baby steckte noch in seinem Matrosenanzug. Sie war voller Blut. Es verklebte ihr Haar, es fleckte ihr Gesicht, ihre Beine. Auch das Baby hatte rote Spritzer und Flecken.
    Nicht ihr Blut. Das Baby lachte, als es Sadie sah, und Dr. Hunter ging gerade und kraftvoll, wie eine Heldin, wie eine Kriegerkönigin.
    Der Hund lief voraus und begrüßte Dr. Hunter, verspielt wie ein Welpe. Als das Baby nahe genug war, streckte es Reggie seine dicken kleinen Arme entgegen und machte seinen Seesternsprung. Sie nahm es, drückte es an sich und sagte: »Hallo, wir haben dich vermisst, kleiner Sonnenschein.«
     
    Jackson ging ins Haus, und als er wieder herauskam, sah er aus, als wäre ihm schlecht. Dann saugte er das Benzin aus dem Toyota, der vor dem Haus stand, und zündete es damit an.
    Man sollte meinen, dass es genau die Situation war, in der man die Polizei rief – Entführung, Mord, Notwehr und so weiter –, aber nein, offenbar nicht. »Ich möchte nicht, dass das Baby das sein Leben lang mit sich herumschleppen muss«, sagte Dr. Hunter zu Jackson, »verstehen Sie? So wie ich es musste?«, und Reggie nahm an, dass er verstand, denn er ließ den ganzen Tatort verschwinden – puff! – einfach so.
    Dann gingen sie den Weg zurück zum Auto, in ihrem Rücken loderten die Flammen am dunklen Morgenhimmel. Sie selbst mussten aussehen, als kämen sie aus der Hölle.
     
    Dr. Hunter sagte, »Lassen Sie uns hier raus«, und Jackson ließ sie an einem kleinen Parkplatz neben einer Wiese aussteigen, als hätte er sie vor einem Supermarkt mitgenommen. »Ich kann mein Haus von hier aus sehen«, sagte Dr. Hunter. »Das schaffen wir. Danke.« Das Baby hielt Jackson die dicke kleine Hand hin, und Jackson ergriff sie und sagte, »Und tschüss«, und das Baby lachte.
    »Auf Wiedersehen, Mr. B.«, sagte Reggie und küsste ihn sanft wie ein Spatz auf die Wange.
     
    Vor dem Haus waren viele Polizisten, aber sie kamen über die Wiese, durch die Lücke in der Hecke im Garten hinter dem Haus und die Küche, und das einzige Lebenszeichen dort war Fingerabdruckpulver, und Dr. Hunter und Reggie gingen schnurstracks die Treppe hinauf und ins Bad, als wären sie unsichtbar oder verzaubert. Dr. Hunter übergab Reggie das Baby und sagte: »Badest du ihn, während ich dusche, Reggie?«, und als sie beide sauber und warm und in Handtücher gewickelt waren, sagte Dr. Hunter: »Es ist erstaunlich, wie sehr man heißes Wasser und Seife vermisst.« Und dann sagte sie zu Reggie, als wäre es ganz normal: »Meinst du, dass du unsere Kleider in deinen Rucksack stecken und sie irgendwo entsorgen könntest?« Und Reggie, die mittlerweile sehr gut wusste, was man mit blutiger Kleidung machte, stopfte den Matrosenanzug des Babys und Dr. Hunters Kostüm, T-Shirt und hübsche Unterwäsche – alles von Blut ruiniert – in ihren Rucksack. Das Blut war noch nicht ganz trocken, doch darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
    Dann holte sie saubere Sachen aus Dr. Hunters Schlafzimmer und dem Zimmer des Babys – mehr Fingerabdruckpulver –, und beide sahen so gut wie neu aus. Nicht Reggie, Reggie war alt, sie hatte

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