Lebenslügen / Roman
Perlen. Es waren diese Kleinigkeiten, die in Widerspruch zu allem anderen zu stehen schienen. Sie sah sauber aus. Ihr Haar war feucht, als hätte sie gerade geduscht. »Das Baby schläft in seinem Bettchen«, sagte sie, bevor Louise fragen konnte.
Reggie saß neben ihr auf dem Sofa mit einer glücklichen milden Miene, als wäre sie entschlossen, kein Wort über nichts zu sagen. Joanna Hunter war vollkommen entspannt. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen Umstände gemacht habe«, sagte sie, als würde sie sich entschuldigen, weil sie zu spät zu einem Zahnarzttermin gekommen war.
»Ich war ein paar Tage weg. Leider erinnere ich mich an nichts mehr. Ich glaube, ich leide an temporärer Amnesie. ›Dissoziative Fugue‹ ist der medizinische Fachausdruck, wenn ich mich richtig erinnere. Ein von einem früheren Trauma ausgelöstes neues Trauma. Andrew Decker vermute ich. Und so weiter.«
»Und so weiter?«, wiederholte Louise.
Sie versuchte sich eine Verhörmethode für die beiden perfekten Lügnerinnen zu überlegen – sie wusste nicht, wie sie die Wahrheit herausfinden, geschweige denn sie verfolgen sollte –, doch das Problem wurde vertagt, weil jemand an die Tür klopfte. Karen Warner watschelte ins Zimmer.
»Entschuldige die Störung, Boss.« Sie atmete heftig, als wäre sie gelaufen. Sie würdigte die auf wundersame Weise wieder anwesende Joanna Hunter keines Blicks. Ihr Ausdruck war so grimmig, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
»O Gott«, sagte Louise und fasste sich ans Herz. »Es ist Needler, nicht wahr? Er ist wieder da«, und Karen sagte: »Ja. So ist es.«
»Jemand ist tot«, sagte Louise. »Ich seh’s deinem Gesicht an. Wer? Alison? Ein Kind? Alle Kinder?«
»Nein, Boss. Marcus.«
Touch-and-go. Ein komischer Ausdruck, wenn man darüber nachdachte. Marcus war im Operationssaal. Louise und Karen saßen in der verlassenen »Zufluchtsstätte« des Royal Infirmary. Nichtkonfessionelle grüne Zweige verwiesen auf Weihnachten.
»Was ist passiert?«, fragte Louise.
»Ich weiß es nicht, es ist alles ein ziemliches Durcheinander. Er hat den Funkspruch gehört und ist hingefahren, ich glaube, er war auf der Ringstraße, auf dem Weg zur Arbeit. Uniformierte aus der Gegend waren schon da, ich glaube, die Sache wurde etwas lässig gehandhabt. Sie wissen schon, die Frau, die zu oft ›Wolf‹ geschrien hat.«
»Lässig. O Gott.«
Needler hatte seine Familie die ganze Nacht mit entsicherter Pistole bedroht. Eins der Kinder schaffte es irgendwann, den Panikknopf zu drücken, und die Polizei war ausgerückt, »der erste Beamte am Tatort« klingelte an der Tür, Needler öffnete und schoss ihm in die Brust. Der »erste Beamte am Tatort« war Marcus. »Er trug keine kugelsichere Weste«, sagte Karen. »Er hätte auf die bewaffneten Kollegen warten sollen. Idiot.«
»Herz über Kopf«, sagte Louise. »Er wollte helfen.«
Als Karen und Louise ankamen, war alles vorbei – nur geweint wurde noch.
Needler war aus dem Haus gekommen, eine saubere Zielscheibe für einen sicheren Schützen, aber bevor sie schießen konnten, richtete er die eigene Waffe auf sich.
»Der Scheißkerl«, sagte Louise. Sie wäre gern dabei gewesen, wenn sie ihn umbrachten, sie hätte ihn gern mit den bloßen Händen zerrissen, wie eine rasende Mänade.
Marcus war in das Krankenhaus St. John’s in Livingston gebracht und dann ins Royal Infirmary nach Edinburgh verlegt worden, wo er operiert wurde.
Als der Chirurg aus dem Operationssaal kam, erkannte er Louise und hob minimal die Augenbrauen, eine winzige Geste, die Marcus’ Mutter entging, die Louise aber sah.
»Oh, Gott«, stöhnte sie.
»Glaub bloß nicht, dass Er helfen wird«, sagte Karen.
Louise stand am Fuß des Bettes. Marcus’ Mutter saß neben dem Bett, hielt die Hand ihres Sohnes. Er lag auf der Intensivstation und wurde künstlich am Leben erhalten.
»Er ist ein Einzelkind«, sagte seine Mutter. Sie hieß Judith, aber Louise konnte nur als »Marcus’ Mutter« an sie denken.
»Sein Vater ist tot«, sagte sie. »Ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass mir etwas passieren würde und er allein wäre.« Ein mutterloses Kind. Nun wäre sie eine kinderlose Mutter. Auch Louise verlor ihn, ihren süßen Jungen.
Ein Mädchen wurde von einer Schwester hereingeführt und setzte sich auf die andere Seite des Betts. »Das ist Ellie«, sagte Marcus’ Mutter zu Louise. Ellie grüßte keine von beiden, wenn sie Marcus mit der Kraft ihrer Gedanken hätte
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