Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
strahlte Kompetenz aus, führte aber anschließend zu den unvermeidlichen Anrufen bei den Angehörigen zu Hause, die doch unbedingt mal in dem Gesundheitsbuch nachsehen sollten, was denn eigentlich »idiopathisch« heiße. (Das heißt übrigens: Wir haben keine Ahnung, woran das alles liegt.) Dann noch ein kurzer Handschlag des Chefarztes. Die körperliche Berührung, ein sakraler Vorgang, der es in sich hat. »Le roi te touche, Dieu te guerisse« (Der König berührt dich, so möge Gott dich heilen), verkündete der neue König beim französischen Krönungszeremoniell, wo dem gerade Gesalbten stets einige Kranke zugeführt wurden, die er anfasste. Am Schluss der Chefvisite wurde dann noch der Assistenzarzt, der sich vor Aufregung wieder sprachlich verhaspelt hatte, zum Opfer gebracht: »Sie wissen wieder mal gar nichts. Versuchen Sie doch einfach einmal, einen ganz normalen Satz auszusprechen: Subjekt, Prädikat, Objekt.« Und mit diesen Worten schwebte der Chefarzt von der Station, die Prozession löste sich in ihre Einzelteile auf, die Schwestern zündeten sich eine Zigarette an, der Assistenzarzt verschwand in seinem Zimmer und leckte seine Wunden. Nur der Oberarzt zog sich eigenartigerweise mit der Stationsschwester und dem Kurvenwagen in sein Zimmer zurück. Als ich später einmal vorsichtig danach fragte, was da eigentlich vor sich gehe, teilte mir die Stationsschwester unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, dass sie da die eigentliche Visite mit dem Oberarzt mache. Die Anordnungen, die der Chef treffe, würden sie schon seit einiger Zeit nicht mehr ausführen. Der Chef merke das gar nicht, der Oberarzt sei fachlich kompetenter und den Patienten würde so besser geholfen. Aber der Ritus muss dennoch sein, er wird erwartet, vor allem von den Patienten. Deshalb merke erneut: Die Form stilisiert sich am sichersten zur höchsten Form, wenn sie allen Inhalt verloren hat.
Ich bin übrigens sicher, dass es solche Chefärzte nicht mehr gibt. Alle Chefärzte, die ich kenne, sind ausgesprochen nett. Aber dem Ritusbedürfnis sind sie nach wie vor ausgesetzt. Es handelt sich bei der religiösen Aufladung des Gesundheitsbereichs nämlich nicht um eine raffinierte Erfindung der Ärzteschaft oder anderer möglicherweise Interessierter. Die Gesundheitsreligion ist ein machtvolles allgemeingesellschaftliches Phänomen und Ärzte sind dabei mindestens ebenso sehr Opfer wie Täter. Es soll nicht bestritten werden, dass es manch einen Kollegen geben mag, dem es Freude bereitet, ein wenig Halbgott zu spielen. Aber Halbgott zu sein ohne ein anbetungsfreudiges Publikum macht auf Dauer auch keinen Spaß. Doch keine Sorge, ein solches glaubensbereites Publikum liegt massenhaft vor. Ungestüm fordern die Menschen Ärzte als Halbgötter.
Auf diese Weise werden alle Üblichkeiten der Religionen imitiert. Es gibt Häresien, Irrlehren, denen man mit inbrünstiger Gläubigkeit folgt und für die man den letzten Groschen opfert. Es gibt begnadete charismatische Heiler, die kleine, verschworene Anhängerschaften um sich versammeln. Es gibt eine heilige Inquisition, die Ärztekammer, die den rechten Glauben – ungefähr identisch mit der Schulmedizin – verteidigt und Irrtümer verurteilt. Und es gibt Wallfahrtsorte – der berühmte Professor –, die trotz weiter Entfernung aufgesucht werden. Das Ausmaß der Hoffnungen, die man auf den ärztlichen Heilbringer richtet, ist direkt proportional zur in Kauf genommenen Entfernung. »Wissen Sie, das kann man doch nicht hier in München behandeln lassen, da kommen wirklich nur die bekannten Spezialisten in Hannover in Frage. Wenn, dann will man doch ganz sichergehen.« – Patienten aus Hannover gehen dann möglicherweise nach München. Solche Wallfahrten sind übrigens höchst entbehrungsreiche Veranstaltungen. Mehrere Voruntersuchungen hunderte von Kilometern entfernt erfordern immer wieder strapazenreiche Reisen. Am Ziel angelangt muss man dann lange in einem öden, weiß gekalkten Wartezimmer warten, weil viele andere Wallfahrer zugegen sind. Zu essen gibt es nichts, zu trinken auch nicht. Irgendwelche unterhaltsamen Ablenkungen? Fehlanzeige! Welch himmelweiter Unterschied zu einer katholischen Wallfahrt in ein bayerisches Benediktinerkloster. Gewiss, der Weg ist beschwerlich, führt aber durch eine herrliche Landschaft. In Gottes schöner Natur wird gesungen und gebetet. Am Ziel, einer prachtvoll ausgemalten barocken Wallfahrtskirche, wird eine feierliche heilige Messe gefeiert,
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