Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
den letzten Tropfen eigenen Lebenssafts aus dem erschlafften Körper gesaugt hat. Vollständiger kann ein Sieg nicht sein.
a) Von der Prozessionstradition zur Chefarztvisite – die neuen Riten
Wie die Römer nach der Eroberung Jerusalems die heiligen Geräte der Juden, etwa den siebenarmigen Leuchter und den Schaubrottisch, im Triumph vereinnahmten, so sind alle religiösen Formen und Riten inzwischen im Bereich des Gesundheitskults heimisch. Wir erleben den bruchlosen Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite. Haben Sie eine solche Veranstaltung einmal erlebt? Sicher, denn zwar hat nicht jeder schon eine Fronleichnamsprozession gesehen, aber jeder war schon mal im Krankenhaus. Die Chefarztvisite findet einmal die Woche statt. Sie ist in der Regel völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll, erfüllt also alle Voraussetzungen für eine Kultveranstaltung. Zwecklos ist sie insofern, als der Chefarzt die nötigen Informationen viel schneller ohne den ganzen Zauber der Chefvisite erhalten und eventuelle therapeutische Anregungen in erheblich nüchternerer Form anbringen könnte. Aber da sei Gott vor. Der Ritus muss sein und die Form stilisiert sich am sichersten zur höchsten Form, wenn sie allen Inhalt verloren hat. Die Patienten erwarten eine solche Visite, die Angehörigen erwarten sie – »War der Chefarzt schon da?« –, die Station erwartet sie. Also muss sie stattfinden.
Vor dem Kommen des Herrn, also des Chefarztes, befindet sich die Station in der Adventszeit. Ich habe das in meiner Ausbildung selbst erlebt. Der gefürchtete Chefarzt von altem Schrot und Korn trieb am üblichen Tag den Adrenalinspiegel aller Beteiligten in erhebliche Höhen. Die jüngste Schwesternschülerin wurde zeitig zum Parkplatz entsandt, um das Eintreffen »des Chefs« so schnell wie möglich zu vermelden. Wie ein Eilfeuer ging dann die Nachricht durch die Abteilung: »Der Chef ist da.« Der mir zugeordnete Assistenzarzt wurde regelmäßig kalkweiß, denn dieser Chef griff noch weit hinter die katholische Tradition zurück, bei ihm gab es Menschenopfer und sein Lieblingsopfer war jener Assistent. Es wäre schon eine eigene religionspsychologische Untersuchung wert, was so ein erwarteter, ersehnter, gefürchteter Heilsbringer, der noch völlig abwesend ist, allein dadurch bewirkt, dass man mit seiner baldigen Ankunft rechnet.
Und dann trat er auf. Man kam ihm nicht mit Palmzweigen entgegen, dazu hätte die Schwesternschülerin auch wirklich keine Nerven gehabt, man breitete nicht die Mäntel vor ihm aus, man zog vielmehr die Kittel an und dann formierte sich der Prozessionszug: Voran die Stationsschwester als Prozessionsleitung mit dem Kurvenwagen. Dann Schwesternschülerinnen als Ministrantinnen, Schwestern, Medizinstudenten, Studenten im praktischen Jahr, Assistenzärzte, der Oberarzt und schließlich und endlich er: der Chef. Er wirkte ohnehin immer würdevoll, aber besonders würdevoll machte er sich mit dieser Begleitung. Die uralte römische Tradition weiß sehr gut, wie wichtig Assistenzfiguren sind. Bei öffentlichen Auftritten des Papstes sitzen in gebührendem Abstand immer wenigstens zwei Würdenträger links und rechts von ihm. Sie haben zwar nichts zu tun, außer dort zu sitzen, aber ihre Anwesenheit steigert wirksam die Bedeutung des Ereignisses. So auch bei der Chefarztvisite. Angelangt im ersten Patientenzimmer griff die Stationsschwester zum Lektionar mit den »heiligen Texten«, das heißt zur Kurve des Patienten. Der Chefarzt ließ einen eher gelangweilten, aber sehr souverän wirkenden Blick darübergleiten und hörte sich dann gereizt die Ausführungen des Assistenzarztes zu dem »Fall« an. Einige stechende Fragen des Chefs brachten den Assistenzarzt wie üblich ins Schleudern. Insgesamt das gleiche Ritual wie letzte Woche: die gleichen Fragen, die gleichen Antworten, nichts eigentlich Überraschendes. Der Patient, der – nachdem die Stationsschwester dem Chef ebenfalls wie letzte Woche den Namen zugezischt hatte – höchstens am Anfang kurz begrüßt wurde, dann aber als Gesprächspartner ausfiel, beobachtete die ganze Szene mit äußerster Aufmerksamkeit. Ein unvermitteltes Lächeln des Chefs: eine Offenbarung; ein Runzeln der Stirn: na Gott sei Dank, er hat nur eine Verschmutzung in der Kurve kritisiert. Bisweilen griff der Chefarzt auch auf die alte religiöse Orakeltradition zurück und redete unverständlich. Das war zwar für die Patienten sehr beruhigend, denn es
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