Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
ein ganzheitliches sinnliches Erlebnis für Auge, Ohr und Nase (Weihrauch!). Was sich dann anschließt, hat Wilhelm Busch in seiner Schilderung einer katholischen Wallfahrt angedeutet: »Hoch von gnadenreicher Stelle winkt die Schenke und Kapelle.« Bei Busch in dieser Reihenfolge! Im Klostergasthof also folgt der schöpfungstheologische Höhepunkt des Ganzen: köstliches Essen, Schweinshaxn oder Besseres, reichlich flüssige Nahrung, das weit bekannte Bier aus der Klosterbrauerei, und Blasmusik nach Herzenslust. Bei jenem ärztlichen Wallfahrtsheiligtum dagegen kommt man nüchtern und geht man nüchtern und blutleer. Das Ergebnis ist im Übrigen oft auch nicht besser, als wenn man in der Nähe Hilfe gesucht hätte. Die Enttäuschung allerdings, wenn der so sehr erhoffte Erfolg nicht eingetreten ist, ist riesengroß. Die meisten Kollegen wissen daher sehr wohl, dass das freundliche Halbgottangebot der Patienten vergiftet ist. Die glühenden religiösen Heilswünsche, die damit verbunden sind, vermag kein Arzt wirklich zu erfüllen. Denn zum Glück, zum Heil, zum Sinn des Lebens ist er von Hause aus völlig inkompetent. So liegt in der Arztrolle heute eine merkwürdige Ambivalenz: der narzisstische Reiz, einige Stunden am Tag Halbgott zu sein einerseits, und die Gefahr, wie Prometheus, der Götterliebling, jederzeit gestürzt werden zu können, da man heimlich weiß, dass das erhoffte Gold, das Heil, in der ärztlichen Alchimistenküche nicht zu haben ist. Wie die Hoffnungen in die Medizin grenzenlos sind, so ist die Erbitterung bei Enttäuschung gnadenlos: Bei Nichterfüllung – Klage.
b) Warum soll meine Lunge älter werden als ich? – die neuen Blasphemien
So hätten seriöse Kollegen nichts lieber als wirkliche Nüchternheit im Umgang mit der Medizin. Das ist der sicherste Boden einer ernsthaften Wissenschaft, die stets bloß zu falsifizierbaren vorläufigen Ergebnissen führt und Schwärmereien und wissenschaftsfremde Einflüsse von sich fern hält. Aber solche Idyllen sind heute völlig lebensfremd, wo schon eine ganz unfertige Idee, die in anderen Wissenschaftsbereichen erst einmal im Proseminar zur Diskussion gestellt würde, mit Hilfe eines Waldes von Mikrofonen aus dem jungen medizinischen Nachwuchswissenschaftler herausgesogen wird. Die Atmosphäre ist religiös aufgeladen wie zur Zeit des Pharao Echnaton in Ägypten, zur Zeit Jesu in Palästina, zur Zeit der trinitarischen Streitigkeiten im 4. Jahrhundert im Römischen Reich oder zur Zeit der Wiedertäufer in Münster. Gesundheitsfragen liegen in der Luft, nicht als theoretische Überlegungen, sondern als aufwühlende Fragen nach dem Glück eines ganzen Lebens. Schon der geringste Anlass kann die Masse zum Brodeln bringen.
Wer nur irgendwelche möglichst absurden Therapien mit hinreichender Heilsgewissheit vorträgt, hat die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf seiner Seite, beliebig viel Sendezeit in Talkshows und endlose Besucherströme auf seiner Homepage. Am sichersten ist der Erfolg, wenn ergänzend angemerkt wird, man habe es hier mit einer alten chinesischen Behandlungsform zu tun, die über Tibet nach Indien gelangt sei und nur mündlich tradiert werden durfte, bis nun nach erheblichen Gewissensnöten der Autor sich wegen des Fortschritts der Menschheit, wegen der Gesundheit und anderer schwer wiegender Gründe entschlossen habe – ganz gegen seine Art –, an die Öffentlichkeit zu gehen. Dass die Schulmedizin diese selbstverständlich »ganzheitliche« Methode noch nicht untersucht habe, liege daran, dass man dort die Überlegenheit dieses über Jahrtausende bewährten Behandlungsverfahrens fürchte und einen zu engen geistigen Horizont habe. Das ist das Paradebeispiel einer Methode der extensiven Gesundheitspflege. Der extensiven Gesundheitspflege wird die ganze Welt und die gesamte Menschheitsgeschichte zu einem einzigen Gesundheitszentrum. Man geht davon aus, dass alles, was es gegeben hat und gibt, mit der Gesundheit irgendwie zu tun haben kann und daher nachweislich auch mit der Gesundheit zu tun hat. Aus beliebigen Phänomenen, Steinen, Kräutern, Wasser, Metallen, können Heilslehren aufgebaut werden, aber auch umgekehrt werden vor allem altehrwürdige östliche Religionen hemmungslos in ihre Einzelteile abgebaut. Die toten Reste fernöstlicher Weisheit werden dann so untrennbar mit westlichem Unsinn verschweißt, dass solcher Buddhismus aus der Dose nur noch erbärmlich ist. Dennoch werden derlei Konserven
Weitere Kostenlose Bücher