Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
erfolgreich in Massen für Massen produziert. Bis in die kleinsten Dörfer hinein gibt es inzwischen Expertinnen und Experten der extensiven Gesundheitspflege, die – humorlos – mit frappierender Selbstgewissheit auftreten und kleine Glaubensgemeinschaften um sich versammeln. Solche Lehren vermitteln ein gnostisches Gefühl überlegenen Wissens: high ohne Drogen! Für die extensive Gesundheitspflege gilt das Motto: je exotischer, desto besser, je absurder, desto wirksamer, je ganzheitlicher, desto hilfreicher.
Die intensive Form der Gesundheitspflege arbeitet demgegenüber nach dem Prinzip: je amerikanischer, desto besser, je professioneller, desto wirksamer, je detaillierter, desto hilfreicher. Musterbeispiel: Junger aufstrebender Wissenschaftler, humorlos, in Amerika Teilnahme an Forschungen bei jemandem, der zur Arbeitsgruppe eines Nobelpreisträgers gehört hatte, berichtet über äußerst interessante Ergebnisse, die gemeinsam mit einer ausländischen Arbeitsgruppe weiterverfolgt würden, DFG-gefördert, Sonderforschungsprogramm etc. – Exkurs: Klage über die schlechten deutschen Forschungsbedingungen: absurde ethische Einschränkungen wegen Drittem Reich und so, zu wenig Mittel, »Amerika, du hast es besser« etc. – Es handle sich um ein winziges Phänomen, nur mit großem apparativem Aufwand darstellbar, allgemein kaum verständlich zu machen etc. Auf heftiges und interessiertes Nachfragen: Gewiss, man könne mit Hilfe dieser neuen Entdeckungen vielleicht dermaleinst schwerste Krankheiten heilen, möglicherweise sogar Krebs, es sei ein Durchbruch. Am nächsten Tag: Schlagzeilen darüber landesweit, vom Boulevardblatt bis zur Intellektuellenpostille.
Das neueste Modell ist die ökumenische Variante. Eine Vereinigung der extensiven mit der intensiven Form der Gesundheitspflege. Das ist der ultimative gesundheitskultige Overkill. Junger Forscher, sehr humorlos, in Amerika ausgebildet, langer Studienaufenthalt in China und Indien. Modernste Medizin unter ganzheitlicher Perspektive, ökologisch eingebunden und mit erheblichem Einsparungspotenzial. Das ist nicht mehr zu übertreffen!
Alle drei Varianten haben übrigens eines gemeinsam: Strikte Humorlosigkeit. Humor ist nämlich die Fähigkeit, sich selbst und das, worüber man redet, probeweise in Frage zu stellen. Das lässt aber das hohe Maß an Selbstgewissheit bei den Heilbringern nicht zu. Allerdings beruht auch auf der Selbstgewissheit die wesentliche Wirkung des ganzen Zaubers. Mephisto im »Faust« über den Geist der Medizin: »Ihr seid doch noch recht wohlgebaut, an Kühnheit wird’s euch auch nicht fehlen, und wenn ihr euch nur selbst vertraut, vertrauen euch die andern Seelen.« Der renommierte Heilsexperte kann in jeder beliebigen Sendung den Gegner mit geeigneten Floskeln außer Gefecht setzen: »So kann man über diese ernsten Dinge nicht reden …«, »Wir haben es hier mit dem Leid von Menschen zu tun und denen will ich helfen …« oder »Wenn Sie jemals mit einem Menschen gesprochen hätten, der davon betroffen ist, würden Sie nicht so leichtfertig behaupten …« Virtuosen des Metiers sagen gar nichts, schauen nur angewidert. Dass so etwas schon ausreicht, kann nur funktionieren, wenn es ein nicht weiter erklärungsbedürftiges allgemeingesellschaftliches Einverständnis darüber gibt, dass man bestimmte Dinge nicht macht oder nicht sagt.
Und jetzt wird auch deutlich, dass die Gesundheitsreligion sich inzwischen einer uralten Schutzvorrichtung der Religionen bemächtigt hat, des Blasphemie-Tabus. Auch hier besteht der stille Sieg des Gesundheitskults darin, dass er nicht nur religiöse Eigenschaften kopiert, sondern dass er beim Räumungsverkauf der alteingeführten Religionen die Originale sogar komplett übernimmt: So wird nämlich in unseren Gesellschaften abfälliges Gewitzel über Jesus Christus nicht mehr unter Tabu gestellt. So genannte Satiresendungen wetteifern mit plattesten Christentumszoten um die Quote. Mit wirklicher Satire, die früher einmal das Christentum als Machtinstanz von links aus attackierte, hat das freilich nichts mehr zu tun. Das Christentum als Machtinstanz hat abgewirtschaftet. Und so kommt heute die Christentumshäme in unseren Gesellschaften in der Regel von rechts. Das Christentum und seine Riten und Gebräuche sind fremd geworden – wie es früher zum Beispiel das Judentum war. Und so zeigt sich im scheppernden Christentumsspott heute nicht mehr mutiger Stolz vor Königsthronen, sondern eine
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