Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
jeder weiß und jeder richtig gut findet. Um diese komplizierten menschlichen Angelegenheiten angemessen zu besprechen, werden weitere zahllose Arbeitsessen – immer erstklassige Seneser Küche – anberaumt und man trinkt köstlichen Chianti. Die Stimmung treibt so dem Höhepunkt entgegen, die Gerüchte schwirren durch die Stadt, die Lokalpresse meldet die kleinsten Details. Da jeder Stadtteil durch ein Pferd vertreten wird, das von einem demgegenüber eher nebensächlichen Reiter ohne Sattel geritten wird, ist insbesondere der Gesundheitszustand der Pferde von entscheidender Bedeutung. Der Tag naht heran, am Morgen wird jedes Pferd in seinem Stadtteil in eine bestimmte Kirche geführt – die Eingangstür ist darauf eingerichtet – und vom zuständigen Pfarrer anständig gesegnet. In dieser Zeit versammeln sich auf dem zentralen Platz, dem Campo, die Bürger der Stadt in mittelalterlichen Kleidern und die Schaulustigen aus aller Herren Ländern.
Und nun ziehen in endloser Prozession die prachtvoll gewandeten Abordnungen der Stadtteile auf den Platz, mit Fahnenschwingern, Trompetern, Trommlern und natürlich dem Pferd nebst unwichtigerem Reiter. Dieses ganze farbenfrohe Spektakel dauert mehrere Stunden. Die Spannung steigt auf den Siedepunkt und nun gilt es aufzupassen. Denn das so gründlich vorbereitete, lang ersehnte Wettrennen auf dem Campo dauert sage und schreibe – nur etwa neunzig Sekunden. Regelmäßig gibt es gewisse Schaulustige, die sich nicht vorstellen können, dass ein so prachtvoller Aufwand wegen neunzig Sekunden getrieben wird, und die das Wettrennen wegen Filmwechsels oder Ähnlichem verpassen. Sie stammen zumeist aus Ländern, die der Lebenslust nicht so zugeneigt sind und die Begriffe wie Ehrgeiz, Ausdauer und Leistung hoch schätzen. Sie ärgern sich nachher maßlos, dass sie das »Eigentliche« gar nicht mitbekommen hätten, und meinen doch tatsächlich, das »Eigentliche« sei das Rennen. Es macht meist nicht viel Sinn, solche Menschen über ihren Irrtum aufzuklären, es ist wohl besser, ihnen fürs nächste Jahr den New-York-Marathon zu empfehlen. Der »Palio« ist übrigens in der Regel in drastischer Weise ungesund. Fast immer landet irgendein Reiter im Krankenhaus, weil er ungünstig abgeworfen wurde. Das ist allerdings nicht weiter wichtig, weil die Pferde für ihren Stadtteil auch ohne Reiter gewinnen können. Wenn dann aber der siegreiche Stadtteil feststeht, ist der Jubel grenzenlos. Im Triumph werden Pferd und Reiter – wenn noch vorhanden – um den Campo geführt, anschließend geht es hinauf in die Kathedrale, wo ein Tedeum gesungen wird, und dann zieht man in den siegreichen Stadtteil, wo die ganze Nacht und die kommenden Tage gefeiert wird. Ellenlange Tafeln biegen sich vor köstlichem Essen. Wer vorbeikommt, wird einfach mit an den Tisch gezogen. Immer wieder bespricht man die entscheidenden Sekunden, man singt und tanzt. Der Chianti fließt in Strömen, aber man betrinkt sich nicht hemmungslos wie andernorts, da Italiener nicht einsehen, warum sie den Höhepunkt eines wirklichen Festes volltrunken im Koma verbringen sollen, anstatt ihn einfach zu genießen.
Nichts beim »Palio« in Siena fördert die Gesundheit. Wer aber die mindestens zweieinhalb Stunden des New-York-Marathons mit den höchstens zweieinhalb Minuten des »Palio« in Siena vergleicht, die wochenlangen lustvollen Vor- und Nachbereitungen in Siena mit dem atemlosen Trainingsgerenne in New York, das köstliche Essen und Trinken in Siena mit der kalorienorientierten Ernährung für den Marathon, der wird nicht zögern, Lebenslust in diesem Falle nicht in New York, sondern eindeutig in Siena zu verorten.
Dennoch scheint nicht der »Palio«, sondern der New-York-Marathon heute problemlos universalisierbar zu sein. Gesundheit ist eben Kult, universaler Kult. Und Lebenslust war schon anderen Religionen eher suspekt. So werden bei uns nicht die Kapellentüren aufgerissen, um auch den Pferden den Segen zuteil werden zu lassen, sondern die Kapellen werden gänzlich abgerissen und an den Stellen, wo früher christliche Andachtskapellen standen, werden heute die Kapellen des Gesundheitskults errichtet, die Fitnessstudios. Die Parallelen sind inzwischen frappant. Kapellen entstanden oft an Wegkreuzen, um im Getriebe des Alltags an das Göttliche zu erinnern. Sie dienten nicht in erster Linie Veranstaltungen der gesamten Gemeinde, sondern persönlichen Frömmigkeitsübungen. Noch heute sieht man dort vereinzelt
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