Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Spannkraft der Haut, dann muss Ihnen klar werden, dass Sie es nicht mit irgendeinem Verrückten, sondern mit einem verehrungswürdigen Heiligen des Gesundheitskults zu tun haben. Sagen Sie nicht, das Beispiel sei zu weit hergeholt. Es gibt inzwischen das Buch einer namhaften Autorin über die heilsamen Wirkungen des eigenen Urins. Durch Trinken, versteht sich. Erfreulicherweise behauptet die Autorin wenigstens nicht, dass das Spaß mache, aber gesund soll es halt sein. Ich habe noch zu Beginn meines Medizinstudiums einen Professor erlebt, der einen Finger in einen Becher mit Urin steckte und dann einen anderen Finger ableckte, um uns zu lehren, genau zu beobachten. Nach alldem würde heute eine solche Übung wohl wie Spott auf die Gesundheit wirken – und das am Beginn des Medizinstudiums!
d) Fit for fun – arbeiten für das neue ewige Leben
Die kollektive Bußfertigkeit der Gesundheitsgesellschaft zeigt sich neuerdings in den so genannten Städte-Marathons: Berlin-Marathon, Köln-Marathon, New-York-Marathon. Dabei entfaltet die Gesundheitsreligion ihre ganze universale, völkerverbindende und parteiübergreifende Wucht. Niemand kann sich dem entziehen. Wehe dem Bürgermeister, der sich erdreisten würde, dieses Ereignis nicht angemessen zu würdigen, am besten durch Mitlaufen. Sogar das Problem, dass bisweilen verfeindete Potentaten am gleichen Hochamt teilnehmen wollen, kennt der neue Kult. Als der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer und der österreichische FPÖ-Vorsitzende Haider am New-York-Marathon teilnahmen, löste sich das Problem, dass heute wirklich alle an solchen Veranstaltungen teilnehmen wollen, dadurch, dass wirklich alle teilnahmen. Auf diese Weise gab es so viele Teilnehmer, dass man sich ganz einfach nicht traf.
Keine Rede übrigens davon, dass der ursprüngliche Marathonlauf einen konkreten Zweck hatte, nämlich die Überbringung einer guten Nachricht von Marathon ohne Umwege nach Athen, und dass er in einem gesundheitlichen Fiasko endete: Der Mann starb nach Erfüllung seiner Aufgabe. Städte-Marathons sind in unserer Zeit die Festtage des Gesundheitskults. Einen Zweck wie der erste Lauf über jene Distanz hat der moderne Städte-Marathon allerdings nicht. Tausende von Gesundheitsgetriebenen rennen völlig zwecklos kreuz und quer durch eine Stadt, um schließlich restlos erschöpft irgendwo anzukommen. Nur wenige sterben dabei. Für die Zeit des Marathons lebt die Stadt im Ausnahmezustand. Der Verkehr bricht zusammen oder, besser gesagt, er kommt gar nicht zustande, da die gesundheitsbegeisterten Bürger sich laufend oder an der Strecke aufmunternd an der Prozession beteiligen und die wenigen anderen so fluchtartig die Stadt verlassen haben, als drohe der Einschlag einer Atombombe. Es ist auch wirklich alles gesperrt, das Leben hält für einen Moment den Atem an.
Historisch ist diese Situation nur mit einem Ereignis zu vergleichen, das Johan Huizinga aus dem »Herbst des Mittelalters« berichtet: Ein Bußprediger kam in die Stadt, der Magistrat zog ihm entgegen, das Leben der Stadt kam völlig zum Erliegen, die gesamte Bevölkerung ließ sich von der oft über 4 Stunden dauernden (etwa die Länge eines Marathonlaufs) Bußpredigt fesseln und war bereit, in Sack und Asche zu gehen. Das hielt nicht lange vor, denn der mittelalterliche Mensch war erregbarer in seinen Emotionen, auch begeisterungsfähiger, aber doch unbeständiger in vielem. Das Leben war farbiger, aber zugleich unberechenbarer. Während also in der mittelalterlichen Stadt wenig später die Sünde wieder Fuß fasste, so dass der Bußprediger im nächsten Jahr erneut kräftig an die Arbeit gehen musste, ist der Städte-Marathon nur der Höhepunkt einer das ganze Jahr über herrschenden Bußgesinnung.
Es mag erstaunen, dass ich den Städte-Marathon nicht, wie es nahe läge, mit den mittelalterlichen städtischen Wettrennen verglichen habe. Die hatten aber eben mit Bußgesinnung und Kasteiung nicht das Geringste zu tun. Sie waren vielmehr Ausdruck praller Lebenslust. Das bekannteste dieser Wettrennen findet noch heute in mittelalterlichen Formen statt. Es ist der »Palio« in Siena.
Wochen vor dem Geschehen, bei dem die Stadtteile gegeneinander antreten, werden in den verschiedenen Stadtbezirken gewaltige Festmähler abgehalten, um das große Ereignis gebührend vorzubereiten. Es werden Wetten abgeschlossen und es wird hemmungslos bestochen, intrigiert, koaliert, was ganz selbstverständlich dazugehört, was
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