Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
stellen, dem Tod. Und es erhebt sich die Frage, ob man die kühne These belegen kann, dass auch der Tod vielleicht sogar eine Ressource im Leben ist. Inwiefern also ist der Tod erfreulich? Eine in der Tat etwas ungewöhnliche Frage, aber für unsere Absichten zweifellos unausweichlich. Da wäre zunächst Platon zu nennen, der nichts entsetzlicher fand als das unendliche Leben. Denn in einem solchen Leben wäre alles ausnahmslos völlig gleichgültig. Wenn ich einen Menschen jetzt beleidige, wäre es gleichgültig, denn in fünfhundert Jahren würde ich mich gewiss wieder mit ihm versöhnen. Wenn ich einen Menschen jetzt erfreue, wäre es ebenso gleichgültig, denn in tausend Jahren würde ich ihn gewiss wieder betrüben. Alles wäre gleichgültig und belanglos. Die Griechen hatten sogar ihre liebe Mühe, sich das Leben der unsterblichen Götter einigermaßen erträglich vorzustellen. Zeus sank zur eigenen Unterhaltung auf das banale Niveau ab, das heute nachmittägliche Spielshows im Fernsehen prägt. Platon jedenfalls hielt das unendliche Leben für die Hölle. Erst durch den unausweichlichen Tod wird jeder Moment des menschlichen Lebens bedeutsam und einmalig. Die heutige Videomentalität ist das Opium fürs Fernsehvolk, das sich das Leben abkaufen lässt mit der Lüge, man könne alles wiederholen, man könne es auf Video aufzeichnen, auf Fotos festhalten, auf CDs fixieren. Nichts kann man wiederholen, nichts festhalten, nichts fixieren. Wenn ich heute einen Menschen hätte anlächeln sollen, der es gebraucht hätte, und es nicht getan habe, dann kann ich das in Wirklichkeit niemals wieder gutmachen. Ich könnte ihn morgen anlächeln, aber da braucht er das nicht mehr und es ändert vor allem nichts daran, dass ein unwiederholbarer Tag im Leben dieses Menschen durch meine Schuld für diesen Menschen traurig verlaufen ist. Denn jeder Moment ist unwiederholbar und er ist unermesslich wichtig – weil es den Tod gibt.
Lebenslust erlebt man nur, wenn man bei der Sache ist, wenn man den Moment in seiner Farbigkeit und Intensität spüren und schmecken kann. Und daher gilt: Wer stets den Tod verdrängt, verpasst das Leben.
Trotzdem macht es noch einen großen Unterschied, wie man den Tod, den nichtverdrängten, dann sieht. Ist er der unerbittliche Endpunkt, der trostlose Zusammenbruch, vor dem man nur auf stoische Weise irgendwie Haltung bewahren kann oder gegenüber dem man auf existenzialistische Weise irgendwie das Absurde der menschlichen Existenz aushalten muss? Oder ist er so gründlich besiegt, dass man unter dem Bild eines gemarterten Toten im Herrgottswinkel einer beliebigen bayerischen Dorfkneipe lustvoll und mit viel Spaß bis in den frühen Morgen hinein zechen kann? Vielleicht können Menschen, die sich mit dem Christentum nicht so richtig auskennen, in einer solchen bayerischen Dorfkneipe am besten verstehen, dass der gekreuzigte Gott für die Christen kein Zeichen von Resignation und Todesverliebtheit ist, sondern ganz im Gegenteil eine kräftige Aufforderung, es bewusst und intensiv zu leben, das Leben. Zwischen dem Todesbewusstsein im pompejanischen Bordell und dem Todesbewusstsein des heiligen Hieronymus in der Wüste klafft gewiss ein beträchtlicher Unterschied. Vergleichbar ist aber die Intensität des Lebens im Bewusstsein des Todes.
Menschen, denen eine Krebsdiagnose gestellt wurde, berichten, dass sie zwar von dieser Nachricht erschüttert wurden, dass sie seitdem aber das Leben viel intensiver erlebten, die Farben eindringlicher, die Töne deutlicher wahrnähmen und die Unwiederholbarkeit jedes Moments erstmals ganz bewusst erlebten. Fast jeder bedauert, dass er nicht schon vorher so gelebt hat. Ihnen wurde jetzt bewusst, dass jeder Tag endgültig und unwiederholbar ein Tag weniger auf der Rechnung ist. Das ist aber gar nichts Neues. Denn da der Tod für jeden Menschen sicher ist, ist von vornherein auch sicher: Jeder Tag ist für jeden Menschen ein Tag weniger auf der Rechnung, man denkt nur nicht immer daran.
Zwar mag die Verdrängung des Todes Voraussetzung für fröhlich plätschernden Atheismus sein. Doch wirkliche Lebensfreude gewinnt man mit dem Weglaufen vor der Wirklichkeit nicht. Vielmehr gilt das Umgekehrte: Wer näher dran ist am Tod, der alte Mensch, der sterbende Mensch, der weise Mensch, der wirkliche Philosoph, der ist auch näher dran am Leben.
Damit wird klar, warum der plötzliche Tod, der heute allgemein gewünscht wird – »Ich will im Stehen sterben!« –, der
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