Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Verzweiflung, Vertrauen und Enttäuschung, Freude und Trauer, Glaube und Liebe und schließlich und endlich der Sinn des Lebens. Ob ein Leben scheitert oder gelingt, alles entscheidet sich an der Tragfähigkeit dieser Erlebnisse. Unendlich wichtig ist es also, sich auf diese Wirklichkeit verlassen zu können. Doch sie entzieht sich dem herrscherlich kraftvollen Zugriff des Menschen. Je mehr man sie zu begreifen und zu definieren versucht, desto weniger versteht man sie. Jeder weiß, dass man die Liebe nicht versteht, wenn man bloß den Artikel dazu im Lexikon gelesen hat. Was das Wichtige also wirklich ist, darüber erlangt man im Leben nie eine kalkulierbare Sicherheit. Das macht das Leben so unberechenbar, aber auch so erfreulich spannend. Man kann es nicht voraussagen, das Leben, man muss es erleben. Die Alten haben das erlebt. Sie verfügen über einen wahrhaft unermesslichen Schatz an Erfahrung mit dem Wichtigen und das hat auch ihren Charakter geprägt. Alte Leute entwickeln oft mehr Humor. Denn Humor setzt voraus, sich selbst in Frage stellen zu können und auch allgemeine Trends wie die Gesundheitsreligion. »Jung sterben kann ich nicht mehr!«, meinte eine resolute 90-Jährige auf die gravitätischen Bemerkungen ihres jugendlichen Hausarztes, sie solle das Rauchen und den Weißweinkonsum einstellen. Die geringere Dynamik alter Menschen hat oft nicht nur mit nachlassenden Kräften zu tun, sondern auch mit einer liebenswürdigen Altersmilde, die über eine viel größere Weitherzigkeit für alles, was menschlich ist, verfügt. Es gibt Kinder, die ihre Eltern erst im Alter richtig lieben lernen.
Zu den erfolgreichsten Unternehmungen der christlichen Basisgemeinschaft San Egidio für die Armen Roms gehören Urlaubsfahrten, die die jungen Leute mit Jugendlichen unter 18 und mit Alten über 65 unternehmen. Obwohl die Teilnehmer nicht verwandt sind, hat sich herausgestellt, dass das für beide Seiten höchst erlebnisreiche Veranstaltungen sind. Denn Menschen aus diesen beiden Altersklassen verstehen sich untereinander offenbar besser als jeweils mit der Generation, die zwischen ihnen liegt. Junge Menschen stellen auf dem Weg ins Leben ganz grundsätzliche Fragen, die oft von ihren berufs- und karriereorientierten Eltern nicht beantwortet werden können, und alte Menschen haben aus ihren eigenen berufs- und karriereorientierten Jahren das Wesentliche herausdestilliert, für das es sich zu leben wirklich lohnt. Die Alten können ernten und man sollte alles daransetzen, ein wenig von dieser Ernte zu profitieren.
Das gilt übrigens auch für die Alten selbst. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen, die sich ihres Alters freuen, erheblich älter werden als diejenigen, die das allgemeingesellschaftliche Defizitmodell des Alters verinnerlicht haben. Und diese Freude am Alter ist keineswegs bloß eingeredet. Denn Hand aufs Herz, trotz all der nostalgischen Lieder über die Schönheiten der verlorenen Jugend – wer möchte ernsthaft die Qualen der Pubertät noch einmal durchleben! Der alte Mensch muss nicht alles können und leisten, er kann aber alles genießen. Wie kulturfähig und lustfähig ist dagegen der jugendliche Karrierist wirklich, der das Theaterabonnement nur dazu nutzt, Kräfte für den Beruf zu tanken? Kultur ist daher keine Beschäftigungstherapie für die Alten. Vielmehr sind alte Menschen für den eigentlichen, zweckfreien Kulturgenuss besser disponiert als jene Zwischengeneration.
Bei uns herrscht immer noch die Überzeugung, Menschen bauten im Alter geistig ab. Die Altersforschung hat aber herausgefunden, dass diese undifferenzierte Meinung auf uralten Untersuchungen beruht, die fehlerhaft waren. Es gibt keinen Hinweis auf einen generellen, unaufhaltsamen geistigen Abbau bei alten Menschen. Selbst wenn mancher Alte einiges vergisst: Was ihm da nicht mehr in den Sinn kommt, ist zumeist die für ein glückliches Leben gleichgültige Datenfülle, mit denen sich ein jugendliches Gehirn heute herumschlägt. Sogar das Vergessen der Vergangenheit kann auf diese Weise als Fähigkeit gesehen werden, freier zu sein für die Gegenwart. Selbst im Zustand der Demenz vergisst ein alter Mensch nicht die Liebe seiner Kinder. Dem jungen Manager aber kann es passieren, dass er zwar die Börsenkurse exakt gespeichert hat, doch in allem Getriebe vergaß, dass er eine Frau hat, die ihn liebt. Manche Defizite des Alters werden paradoxerweise durch die übliche Altenbetreuung erst produziert. Eine
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