Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Horror früherer Zeiten war. Das hat nicht nur damit zu tun, dass der plötzliche Tod die Sterbesakramente nicht mehr möglich machte, so dass man ohne die Tröstungen der Kirche dahinschied. Die klassische Sterbeszene der antiken Philosophie, der Tod des Sokrates, vollzog sich bei vollem Bewusstsein und beobachtbar langsam. Sokrates beschreibt seinen ihn umgebenden Schülern detailliert, wie der Sterbeprozess voranschreitet. Die aufrechte oder demütige Begegnung mit Sterben und Tod, das wünschte sich der Weise und der Fromme. Das Bittgebet um einen »guten Tod« ist eine Bitte um langsames Sterben.
Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass das 14. Jahrhundert eine »Ars Moriendi« entwickeln konnte, eine Kunst zu sterben. Das hat rein gar nichts zu tun mit jenen heute marktschreierisch propagierten, zynischen Methoden und nekrophilen Tipps zur gesellschaftsentlastenden Selbstentsorgung von Mitbürgern, die angeblich sich und anderen zur Last werden. Die »Ars Moriendi« ist, um genau zu sein, zunächst und vor allem nicht eine Kunst zu sterben, sondern eine Kunst zu leben – im aufrechten Wissen um die Gewissheit des Todes. »Ars Moriendi« ist die Kunst, jeden Moment bewusst und mit aller sinnlichen Intensität zu leben bis zum »letzten Stündlein«, und das eben ohne die »Heiden-Angst« vor dem Tod, sondern in der christlichen Überzeugung, dass der Tod mit der Erlösung durch Jesus Christus überwunden ist. Aus einer solchen lebenslustigen Haltung heraus konnte Martin Luther sagen: Wenn er sicher sei, morgen zu sterben, dann würde er heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Die Kunst zu sterben war eine Schule für die Lust am Leben. Wer meint, die Ehrfurcht vor Gott und die Furcht vor dem Tod habe die mittelalterlichen Menschen in entsetzliche Ängste versetzt, der hat nichts begriffen von der Psychodynamik der Angst. Nicht die Furcht vor den farbigen und phantasievollen Ungeheuern des Hieronymus Bosch ist wirklich entsetzlich, sondern die Angst des modernen Menschen vor dem bildlosen Krankenhausbadezimmer, in dem er möglicherweise während der Teamsitzung des Personals zwischen Frühdienst und Spätdienst einsam und hoffnungslos seine Seele aushaucht.
Der lustvollste Kunststil der Weltkunstgeschichte ist wohl der Barockstil. Die Freude am nackten menschlichen Körper, an üppigen Gelagen, an rauschenden Festen, die den Moment in seiner höchsten Intensität feierten und für die die größten Künstler phantasievolle Staffagen schufen, die danach einfach zerrissen wurden, diese unbändige Freude hat wohl keine Zeit so exzessiv ausgelebt wie das 17. und 18. Jahrhundert. Doch die bis zur äußersten Feinheit hochgezüchtete Lust am prallen Leben verwandte ein Mittel zur Steigerung sinnlicher Wahrnehmung der Gegenwart, das heutige Menschen überraschen muss: den Tod. Überall taucht er mit aller Drastik auf, als schauerliches Gerippe, das mit dem Stundenglas winkt, wie auf Berninis prachtvollem Grabmal des Papstes Alexander VII. im Petersdom. Schon bei der äußerst festlichen Krönung war dem Papst der Kardinalprotodiakon vorangeschritten, hatte sich an drei Stellen auf dem Weg zum Hochaltar umgewandt, im Angesicht des schweigenden Papstes ein Stück Werg verbrannt und die mahnenden Worte gesprochen: »Sancte pater, sic transit gloria mundi!« (Heiliger Vater, so vergeht der Ruhm der Welt!) Aber auch in weltlichen Zusammenhängen hat Freund Hein in der Barockzeit immer wieder seinen Auftritt. Der gerade in den nicht seltenen Pestzeiten allgegenwärtige Tod, der bei durchgehend hoher Kindersterblichkeit ein alltägliches Phänomen war, wurde ganz entschieden nicht verdrängt, sondern bei den Hörnern gepackt und genutzt zur Steigerung der Lebensfreude. Der Barockzeit ist offensichtlich, wenn man das einmal so ausdrücken darf, die Synthese zwischen den Totenschädeln im pompejanischen Bordell und dem Totenschädel auf den Gemälden des den Freuden der Welt entsagenden heiligen Hieronymus gelungen. Fromme Lebensfreude strahlt das Ganze aus. Keine Resignation vor dem Tod, sondern seine Bewältigung durch einen glutvollen Glauben – und eben vor allem: keine Verdrängung. Ein durchaus prachtgewöhnter römischer Kardinal, Antonio Barberini, befahl, auf seine Grabplatte in der Kirche Santa Maria della Concezione in Rom anstelle seines Namens zu schreiben: »Hic iacet pulvis, cinis et nihil« (Hier liegt Staub, Asche und Nichts). Die Lust im Leben des Barockmenschen pulsierte im Bewusstsein der
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