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Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)

Titel: Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Lütz
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mit so genannten Psychosekten befasst. Die Effizienz der dort betriebenen freiheitsberaubenden Methoden steht drastisch vor aller Augen. Die Frage nach der Seriosität stellt sich hier anders: Psychotherapie oder Religion beziehungsweise Weltanschauung? Zwar ist die Frage spontan oft leicht zu beantworten, alles erinnert da zumeist an Sektenstrukturen. Doch wenn man in die Lage kommt, dafür präzise Kriterien angeben zu sollen, wird die Sache schwierig. Die Literatur der verschiedenen Therapieschulen geht an dieser Fragestellung weitgehend vorbei. Schlimmer noch, manche Therapierichtungen fördern unter dem Pathos eines unpräzisen Begriffs der »Ganzheitlichkeit« – in bester Absicht, möglichst gründlich zu helfen – Missverständnisse und Grenzüberschreitungen.
    Der Sinn des Lebens, die Liebe eines Menschen und überhaupt das Wichtige im Leben stehen aber nicht in der Kompetenz der Psychotherapie, sie erschließen sich in der freien erschütternden oder beglückenden existenziellen Kommunikation gleichberechtigt von Mensch zu Mensch. Wenn Psycho- therapie vielleicht günstigere Rahmenbedingungen für solche Erlebnisse zu schaffen vermag, so darf sie nicht beanspruchen oder auch nur zulassen, mit ihrem Handwerkszeug, nämlich zielgerichteter methodischer Kommunikation, Sinn und Liebe absichtsvoll herzustellen. Heraus kämen dann nur Plastiksinn und Hörigkeit. Sogar Eugen Drewermann warnt mit Recht davor, dass nicht »den Psychokraten das Feld überlassen wird, deren Techniken doch nur bis zu diesem Punkt tragen, wo das Eigentliche beginnt, die aber jenseits davon versagen müssen«.
    Jede Psychotherapie ist eine zum Zwecke der Heilung von Leiden manipulative und asymmetrische Beziehung eines methodenkundigen Profis zu einem Heilung suchenden Menschen. Gerade deswegen muss sie streng durch Supervision kontrolliert und sowohl inhaltlich wie zeitlich ausdrücklich begrenzt werden. Psychotherapie ist damit – sogar für psychisch Kranke – stets höchstens die zweitbeste Form der Kommunikation. Die beste Form ist das Gespräch mit Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Metzgern und sonstigen ganz »normalen« Leuten. Erst wenn das nicht mehr geht, entweder weil die psychische Störung zu ausgeprägt ist oder weil ein solcher Kontext nicht vorliegt, dann tritt Psychotherapie ein, aber auch nur so lange, bis jene beste Form der Kommunikation wieder möglich ist. Daher muss der Grundsatz gelten: So wenig Psychotherapie wie möglich, so viel wie nötig.
    Wenn sich etwas Psychotherapie nennt, das eine Beziehung von der Wiege bis zur Bahre anbietet, handelt es sich nicht um Psychotherapie, sondern um Weltanschauung. Weil die psychotherapeutische Beziehung also eine streng begrenzte Beziehung ist, die nur mit dem Ziel der Heilung oder Linderung von Krankheitssymptomen aufgenommen wurde, muss der seriöse Psychotherapeut bemüht sein, sie möglichst kurz zu halten. Je länger er die Therapie laufen lässt, desto wichtiger macht er sich und seine Fähigkeiten und desto weniger Respekt zeigt er vor den eigenen Kräften des Patienten. Bemühung um Kürze von Psychotherapie ist daher nicht etwa Oberflächlichkeit oder ökonomische Sparsamkeit und nicht bloß Signum einer bestimmten Therapierichtung, sie ist nach meiner Überzeugung ein ethisches Gebot für jede Psychotherapie, die Menschen befähigen oder ermutigen will zum eigentlichen Leben. Und das ist nicht die künstliche Beziehung in der Therapie, sondern wahrhaft echte Beziehung zu anderen Menschen neben und nach der Therapie. Gute Therapie macht nicht Lust auf Therapie, sondern Lust aufs Leben.
    Das Herrschaftswissen des Psychotherapeuten vorausgesetzt, ist Psychotherapie eben auch kein herrschaftsfreier Diskurs im Sinne von Jürgen Habermas. Psychotherapie ist eine künstliche Beziehung für Geld. Wer nicht ehrlich zugibt, dass er den Sinn des Lebens und wahre Liebe für Geld nicht bieten kann, betriebe nichts anderes als existenzielle Zuhälterei.
    2. Neurotisches Elend und normales Leid – Kunsthandwerker vor der Gretchenfrage
    Doch gerade danach scheinen die Menschen zu suchen, wie wir schon sahen. »Ich möchte ganz werden«, war das irreduzible Ziel einer Frau, die mich um Psychotherapie anrief. Während noch Freud bescheiden aus neurotischem Elend normales Leid machen wollte, ertrinken Psychotherapeuten heute in einer Inflation der Sinnerwartung, die ungestüm gegen sie heranbrandet. Ein vergiftetes Angebot, denn dies zu bewältigen sind Psychotherapeuten

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