Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
einige Wirkungen eintreten, die auf professionell gute Interventionen zurückzuführen sind. Dennoch, der wesentliche Effekt würde gewiss auch eintreten, wenn ein selbstbewusster, redseliger Metzger, der zuhören kann, als Fernsehpsychologe vorgestellt würde. Die Risiken und Nebenwirkungen solcher Bemühungen um die psychische Gesundheit sind nicht zu verkennen, kommen aber naturgemäß im Fernsehen nicht vor. Unter dem verzweifelten Druck ihres Problems, für dessen Lösung sie jede Hemmung fallen lassen, exhibitionieren sich hier zum einen oft Menschen vor einer großen Öffentlichkeit mit höchst persönlichen Bekenntnissen. Das kann im Nachhinein traumatische Folgen haben. Zum anderen greift die Psychologin oftmals beherzt mit Ratschlägen in Lebensgeschichten ein. Das ist in sich problematisch und außerdem kennt sie diese Lebensgeschichten überhaupt nicht. Aber so ein Eingreifen erhöht den Unterhaltungswert. Damit werden Menschen in ihren existenziellen Lebensentscheidungen durch die hohe Autorität der Fernsehpsychologin manipuliert. Bedenken freilich gibt es da keine. Psycho ist in. Und niemand wird ja gezwungen anzurufen. Doch das sage man einmal einem wirklich verzweifelten Menschen, der auf die Fernsehpsychologin seine letzte Hoffnung setzt!
Nichtpsychologen imitieren die verehrte Psychologenzunft. Gewisse Talkmaster fragen nach traumatischen ödipalen Konflikten oder rücken den Befragten mit samtener Stimme so nahe auf die Pelle, dass man den Eindruck hat, sie wollten im Sinne von dem, was sie für Empathie halten, das Innerste ihrer Gäste veritabel nach außen kehren. Dem liegt die schlichte, längst widerlegte Laienthese zugrunde, was einmal draußen ist, ist draußen und belastet nicht mehr. Das ist kompletter Unsinn. Was einmal draußen ist, ist hier zunächst einmal drinnen, nämlich im Fernsehen, und Probleme bloß dadurch zu lösen, dass man darüber einfach mal redet, ist Psychologie auf dem Niveau des Psychotherapeutenwitzes: »Wo geht es zum Bahnhof? – Weiß ich nicht, aber schön, dass wir mal darüber geredet haben!«
Wer die Bühne für Veranstaltungen bietet, in denen die Würde des Menschen verletzt wird, dazu auch noch einlädt und daran verdient, kann sich nicht damit herausreden, dass er nicht dafür verantwortlich sei, was erwachsene Menschen auf seiner Bühne treiben. Solcher Seelenstriptease ist gemeinhin erheblich würdeloser als das komplizierte Ausziehen von Unterwäsche – und für den Seelenhaushalt vor allem gefährlicher, wie man inzwischen belegen kann. Das ist kein generelles Verdikt gegen unterhaltsame und informative Talkshows, wohl aber gegen öffentliche Lustbarkeiten, die mit unblutigen Menschenopfern arbeiten.
2. Psycho – Katastrophen
Nicht nur die Psychologie wird überschätzt und missbraucht, auch die Psychologen. Diplompsychologen werden heute für alles und jedes eingesetzt. Bei Katastrophen bekommen die Opfer »psychologische Hilfen«, wie es schon routinemäßig in den Nachrichten heißt. Dabei schwingt der Gedanke mit, psychologische Hilfe könne die Belastung an den Grenzen unserer Existenz bei Leid und Tod irgendwie wegmachen. Zweifellos ist in einer schweren existenziellen Erschütterung nicht die Anwendung irgendeiner Methode, sondern echte menschliche Zuwendung gefragt und da können Angehörige, Freunde oder Seelsorger mit Lebenserfahrung mindestens genauso guten Beistand leisten wie junge Psychologen, die eine Ausbildung in Traumabearbeitung absolviert haben. Im Grunde wissen die Menschen das auch. Nach dem entsetzlichen Anschlag vom 11. September 2001 in New York berichtete das amerikanische Nachrichtenmagazin »Time«, dass das psychiatrische Krisenzentrum vor Ort erstaunlicherweise unterbeschäftigt war. So erstaunlich war das allerdings nicht. Jedem erfahrenen Psychiater ist bekannt, dass sogar eine schwere Depression sich bei Eintreten einer realen Katastrophe bessern kann. Und es ist ein bekanntes Phänomen, dass im Krieg, der entsetzliches Leid über die Menschen bringt, die Selbsttötungsrate sinkt. Gewiss gibt es Zustände nach schweren seelischen Traumata, bei denen professionelle Hilfe erforderlich und sinnvoll ist, aber dafür muss es eine Indikation geben. Der flächendeckende Einsatz von Psychotherapie in allen Lebensbereichen wäre ein totalitäres Projekt mit dem Ergebnis der radikalen Entfremdung des Menschen von sich selbst. Es wäre eine ruhig gestellte Gesellschaft, die reibungslos funktionieren und in der bei jeder
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