Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
völlig inkompetent. Das Missverständnis von Psychotherapie als Religionsersatz ist möglicherweise die verhängnisvollste Nebenwirkung von Psychotherapie. Daher ist es für einen Psychotherapeuten nützlich, sich eher als päzise und sorgfältig kontrolliert arbeitenden Handwerker am psychischen Apparat, wie Freud sagt, zu verstehen, wobei es einige Mitglieder der Zunft zum Kunsthandwerk bringen mögen. Die Nähe zu den Prinzipien der Handwerkskammer mag am besten davor schützen, sich in der gefährlichen Nähe von Visionären und Künstlern, faszinierenden religiösen Genies und Poeten zu sehen, die den Menschen so viel mehr geben können, als Psychotherapeuten geben dürfen.
Es hilft alles nichts: Jede seriöse Psychotherapierichtung hat sich Gretchens Frage: »Wie hast du’s mit der Religion?«, zu stellen und so präzise wie möglich anzugeben, wo ihre Grenze gegenüber Religion und Weltanschauung liegt. Und sie hat darauf zu achten, dass diese Grenze gewahrt wird, damit über den begrenzten Auftrag der Psychotherapie hinaus der eigene Raum für existenzielle Beziehungen und Erfahrungen gesichert wird – selbst wenn er für Einzelne, wie das Allerheiligste des jüdischen Tempels, leer bleibt. Andernfalls würde Psychotherapie letztlich totalitär, denn jeder methodische Zugriff auf den geheimnishaften Kern des Menschen verletzt zutiefst Intimität und Würde des Menschen. Erklärt man das Thema Religion für gleichgültig und reflektiert es daher nicht, treibt es unbemerkt seinen Spuk in der Therapie, da es irgendein »Über-die-Therapie-Hinaus« ja ausdrücklich nicht gibt. Holt man es absichtlich in die Therapie hinein, hat man mit den gleichen Gefahren zu kämpfen. Es bleibt der Respekt vor der Grenze.
Es sei allerdings davor gewarnt, solche Überlegungen allzu vordergründig auf verschiedene Therapierichtungen zu übertragen. Das Thema Psychotherapie und Religion hat die Entwicklung moderner Psychotherapie stets begleitet – freilich mehr beiläufig und oft eher pathetisch als begriffsklar. Sagen wir es knapp: Es muss dahingestellt bleiben, ob das jungsche Denken in seinem bis zu esoterischem Überschwang reichenden religiösen Bilderreichtum den existenziellen Erschütterungen Sören Kierkegaards gültigere Antworten gegeben hätte als die diesbezüglich eher abstinente Nüchternheit Freuds, die sich hier »kein Bild macht«. Ob sich wiederum Freud in seinem unbestritten antireligiösen Affekt den weltanschaulichen Plattitüden des Urvaters der Verhaltenstherapie Burrhus Frederic Skinner angeschlossen hätte, dem sich die heutige Verhaltenstherapie in dieser Hinsicht auch nicht mehr verbunden weiß, muss sogar ausdrücklich bezweifelt werden.
3. Psychotherapie und Seelsorge – Beethoven und der psychische Apparat
Victor Frankl war ein genialer Erfinder psychotherapeutischer Techniken. Außerdem hat er die einseitig defizitäre Religionssicht Freuds wirksam in Frage gestellt. Dennoch ist seiner Logotherapie die Gratwanderung nicht immer gelungen, den Sinn des Lebens als wichtig zu beschwören und ihn nicht zugleich auch vermitteln zu wollen. Denn die Rollen des Arztes und des Seelsorgers müssen streng getrennt werden. Zwar sollten Ärzte und Psychotherapeuten Ahnung von und Respekt vor der Seelsorge haben und dann, wenn existenzielle Fragen aufkommen, die Professionalität besitzen, an den Seelsorger zu überweisen. Auch Seelsorger sollten sich mit psychopathologischen Phänomenen auskennen, um gegebenenfalls an einen Psycho-Fachmann abzugeben. Aber eine Vermischung beider Rollen wäre eine verhängnisvolle Manipulation und führte schnell zu Guru-Konstellationen. Ein Mensch, dessen tiefe Depression man durch fachlich korrekte Behandlung in vergleichsweise kurzer Zeit beseitigt hat, ist einem Therapeuten verständlicherweise sehr dankbar. Und wenn der Therapeut diesem Menschen dann eine beliebige religiöse Auffassung nahe legt, so wird er geneigt sein, darauf einzugehen. Das aber ist Manipulation im existenziellen Bereich. Die Entscheidung zum Glauben ist eine freie Entscheidung und darf nicht manipuliert werden. Sie kann im Kontakt mit einem guten Seelsorger reifen. Der Arzt darf sie mit seiner Autorität nicht bewirken. Umgekehrt führt die Vermischung von Psychotherapie und Seelsorge zum Beispiel bei einem gewissen Michael Dieterich zu dem höchst fragwürdigen Ergebnis, dass bei dessen »biblisch-therapeutischer Seelsorge« die Methodenwahl vom Heiligen Geist übernommen wird. Eine solche
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