Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Sichtweise kann verheerende Folgen haben. Denn wer davon wirklich überzeugt ist, kann eigene Fehler verständlicherweise gar nicht mehr wahrnehmen.
Echte Seelsorge ist niemals manipulativ-methodisch. Sie ist viel umfassender und reicht viel tiefer als Psychotherapie. Und es besteht eigentlich überhaupt kein Anlass, dass Seelsorger ihr Selbstwertgefühl von irgendwelchen Wochenendseminaren in Psychotherapie ableiten. Die Freiheit des Menschen kann durch psychische Verknotungen in ihrer Ausübung gehindert sein, aber sie ist dennoch niemals das Produkt der Psychotherapie, sondern liegt ihr stets voraus. Sie ist der heilige Boden, der des fremden Menschen Hand entzogen ist, auf dem Würde und Einmaligkeit, Schuld und Verantwortung, Lust und Freude dem Menschen selbst und keinem Therapeuten letztlich zugänglich sind. Diesem Kern des Menschen begegnet man nicht therapeutisch, sondern im Dialog, so, wie Martin Buber ihn verstanden hat, in der existenziellen, gleichberechtigten Begegnung von Mensch zu Mensch.
Ein seriöser Psychotherapeut macht also aus seinen Grenzen keinen Hehl und er kann Menschen sehr helfen, wenn er ein Ansinnen, das über die Möglichkeiten der Psychotherapie hinausgeht, höflich, aber bestimmt zurückweist. Die durch Psychotherapie erreichbaren Ziele sind stets begrenzt und oft kann der Psychotherapeut nur eine tragische Entwicklung zeitweilig hilfreich begleiten. Ein guter Psychotherapeut beherrscht seine Technik und überlässt die Ziele dem Patienten. Auf diese Weise enthält er sich jeder weltanschaulichen Präjudizierung. Er kann den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit suggestiv auf die Kräfte und Ziele des Patienten lenken und damit Heilung bewirken, ein Heilsexperte jedoch ist er nicht.
So sind die Möglichkeiten der Psychotherapie auch für unser Projekt »Lebenslust« durchaus beschränkt. Selbst im besten Fall kann sie das Glück nicht herstellen, allenfalls das Unglück vermindern – mit dem Risiko, es zu vermehren.
Man mag den seelischen Apparat, für den der Psychotherapeut zuständig ist, mit einer Geige vergleichen. Ohne die Musik Beethovens, Mozarts und der vielen anderen wäre eine Geige nur ein eigenartig geformtes Hindernis für Ameisen. Erst die Musik macht sie so wertvoll. Mit der »Musik« aber, mit all dem Schönen, das der Apparat bewirken kann, hat der Psychotherapeut nichts zu tun. Er hat nur die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das Instrument wieder Töne hervorbringen kann. Der Melodie eines Lebens aber, die dann wieder erklingt, kann auch er nur staunend lauschen. Auf diese Weise vermag es dem Psychotherapeuten zu gelingen, verklemmte Türen zu öffnen oder verborgene Türen zu beleuchten. Den Schritt hinaus muss der Patient selbst tun. Und wohin ihn dann dieses spannende Leben führt, das geht nur den Patienten an.
E. Lebenslust – ohne Risiken und Nebenwirkungen an den Quellen der Lust
D och weil dieses Buch nicht von Therapie handelt, sondern vom Leben und der Lust, die es machen kann, dürfen wir den Menschen auf diesem Weg begleiten. Wir werden das bescheiden tun, denn jeder Mensch hat seine eigenen höchst persönlichen Erfahrungen mit der Lebenslust, und darauf zu achten, wo es ihm wirklich zutiefst gut gegangen ist, das ist schon ein wichtiger Schritt zu mehr Lust am Leben. Eigentümlicherweise nennen da viele Menschen Zeiten der äußeren Entbehrungen. Allerdings besteht kein Anlass, die Entbehrung an sich schon für sehr lustig zu erklären. Das meiste, was zu diesem Thema zu sagen ist, ist schon im bisherigen Verlauf des Buches angeklungen oder bereits ausgeführt. Denn ein Buch über Lebenslust zu schreiben und an dessen Anfang eine schwarze, streng lebenslustfreie Zone zu stellen, um dann erst am Schluss einen Ausflug in die fernen Oasen der Lebenslust zu unternehmen, das wäre ein Widerspruch in sich. Es gibt nämlich schon genug lebenslustfreie Zonen in unseren Gesellschaften. Wir sollten sie nicht noch vermehren. Daher war die Lebenslust in den Beschreibungen des Elends der Gesundheitsreligion immer schon gegenwärtig: die Beteiligung an einer lustvollen katholischen Wallfahrt in ein bayerisches Benediktinerkloster und der Besuch des alten Martin Luther beim fröhlichen Pflanzen seines Apfelbäumchens, das Schwelgen in barocker Sinnlichkeit und der Auftritt Burkhards zur Polizeiertüchtigung, das genussvolle Erlebnis des »Palio« in Siena und das Violinkonzert von Beethoven.
Eines ist freilich auch sicher: In den Kathedralen des
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