Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
20. Jahrhunderts, den Krankenhäusern, ist sie nicht zu haben, die Lebenslust, und auch nicht auf der Couch des Psychotherapeuten. Das muss ja auch gar nicht sein. Beide Einrichtungen haben ihren guten Sinn zur Hilfe bei den seltenen Ausnahmezuständen des Lebens, für die sie dienlich sind. Aber sie belegen nur einen verschwindenden Teil an Fläche in unseren Ländern. Wenn man auf der Suche nach Lebenslust und Lebensglück da mal zufällig über eine Couch oder durch ein Krankenhaus stolpern sollte, wird das statistisch nicht häufig vorkommen und ist dann auch nicht weiter schlimm. Aber wenn man Lebenslust sein Leben lang absichtlich und ausdauernd genau da und sogar nur da sucht, wo sie nachweislich nicht zu finden ist, dann kommt man aus dem Labyrinth des Gesundheitswesens nicht mehr heraus. Und irgendwann sitzt man in Platons Höhle, sieht die Schatten der Wirklichkeit an der Wand, hat vergessen, sich nach dem eigentlich Wichtigen umzusehen und womöglich aus der Höhle herauszusteigen ans wärmende Licht von Lust und Leben.
Daher wurden in diesem Buch einige Warnschilder aufgestellt, dass der Weg zur Lebenslust nicht auf der Hauptstraße der Gesundheitsgesellschaft zu finden ist, auf der derzeit die Massen atemlos und braun gebrannt daherjoggen. Freilich muss man dann auch ein paar Umleitungsstrecken ausschildern, denn sonst ist das Ergebnis bloß ein Verkehrsstau, der bekanntlich nur für »Stausüchtige« fragwürdigen und jedenfalls sehr zeitaufwendigen Lustgewinn bringt. Es handelt sich bei solchen Umleitungen um kleinere Straßen mit schöner Aussicht, die wir nun befahren werden. Und auch da gilt, dass das Buch über Wein keineswegs den Weingenuss ersetzen kann. Außerdem beanspruchen die hier beschriebenen Wege keinesfalls allein selig machende Ausschließlichkeit. Mancher Leser wird lieber im Jeep quer durch die Landschaft fahren und Orte der Lebenslust aufsuchen, von denen er sicher ist, dass niemand sonst dahin kommt. Schlimmstenfalls wird man sich sogar zu Fuß einen eigenen Weg zu verborgenen, ganz persönlichen Stätten des Genusses bahnen. Solche Orte in einem Buch zu verraten wäre indiskret, ja ohnehin unmöglich, denn der höchst individuelle Geschmack ist nicht vermittelbar. Dennoch ist er unbestreitbar die Bedingung wirklicher Lebenslust und jedenfalls oft viel lustträchtiger als das, was man in Büchern beschreiben kann. »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum«, ist ein Rat des Mephistopheles, den man ohne weiteres beherzigen kann.
Doch es gibt aus der Erfahrung der Menschheit auch hilfreiche Hinweise, wie man solche Bäume am besten findet und auf eine Weise mit ihnen umgeht, dass ihnen nicht beizeiten der Lebensodem ausgeht wie beinahe der kleinen Katze, die meine 5-jährige Tochter »sehr lieb« hatte. Angesichts der Kürze und Begrenztheit des Lebens wäre es doch sehr bedauerlich, wenn man erst an seinem Ende selbst auf lebensfreudige Ideen käme, die andere schon längst hatten und mit denen man viel früher viel mehr hätte anfangen können. Nur das berechtigt im Übrigen, ein Buch über Lebenslust zu schreiben. Denn man übernimmt damit auch Verantwortung für die unwiederholbare Zeit, in der der Leser sich durch das Buch »arbeitet«, wie es bezeichnenderweise heißt. Arbeit ist aber keine Lust, sondern sogar eher das Gegenteil.
I. Lebenslust braucht Zeit – aber keine Freizeit
Und damit wären wir bereits bei einem entscheidenden Problem der Lebenslust, nämlich der Zeit. Wer hat heute schon Zeit zur Lust! Kennen Sie jemanden? Gewiss, die erfreulichen Erleichterungen der Arbeit durch den technischen Fortschritt haben bewirkt, dass wir mehr freie Zeit haben könnten. Doch die Entwicklung zur »Freizeitgesellschaft« hat den eigenartigen Effekt, dass wir sie dennoch nicht haben, die Zeit.
1. Vertriebene Zeit
Es ist schon ziemlich paradox. Alle Welt klagt darüber, keine Zeit zu haben. Wenn man sie dann aber haben könnte, dann geht man damit um wie mit einem wilden Tier: Man vertreibt sie – das nennt man dann »Zeitvertreib« – oder man schlägt sie gar tot – das nennt man dann »Zeit totschlagen«. Die Freizeitgesellschaft hat umfangreiche Instrumente für die Großwildjagd auf die Zeit entwickelt. Überall gibt es »Erlebnisurlaub«, wo die Freizeitmenschen unermüdlich von morgens bis abends Tätigkeiten nachgehen, die sinnvoll sein sollen. Dabei sind sie nicht sinnvoll, sondern allenfalls zweckmäßig. Von der Arbeit
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