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Lebt wohl, Genossen!

Lebt wohl, Genossen!

Titel: Lebt wohl, Genossen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: György Dalos
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siegten die Reformkräfte um Gorbatschow, unter ihnen auch parteilose Intellektuelle, mit einer klaren Mehrheit über die Konservativen um Jegor Ligatschow. Die hohe Wahlbeteiligung von 89 Prozent, die niemals wieder erreicht werden sollte, zeigte den Willen der Bevölkerung, das zum ersten Mal eingeräumte Wahlrecht auch wahrzunehmen.
    Andrej Sacharow spricht auf dem Kongress der Volksdeputierten der UdSSR. Im Hintergrund Michail Gorbatschow als Vorsitzender
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    Trotz des formalen Erfolgs – 85 Prozent der gewählten Abgeordneten waren in irgendeiner Form Kandidaten der KPdSU – waren die Wahlergebnisse für die Funktionäre ein Schock. Auf der nächsten Politbürositzung begann eine Rebellion der Konservativen – dazu Einiges im Wortlaut.
    Drei Abgeordnete aus der oppositionellen Interregionalen Gruppe des Kongresses der Volksdeputierten, des halbwegs frei gewählten sowjetischen Parlaments: Anatolij Sobtschak, Boris Jelzin und Andrej Sacharow (die vierte Person ist unbekannt)
    WOROTNIKOW «Vierzehn Kommandeure der Militärbezirke sind durchgefallen.» – «Wir alle leiden mit den Genossen, die nicht durchgekommen sind.»
    LIGATSCHOW «Hauptgrund für die Niederlage war der Standpunkt der Massenmedien gegenüber der Geschichte der Partei. Wir müssen uns daran erinnern, dass auch in Ungarn und der Tschechoslowakei 1956 und 1968 alles bei den Medien begann.» – «Wir müssen auch die Genossen, die eine Niederlage erlitten haben, im Apparat behalten.»
    SAJKOW «Im Moskauer Stadtkomitee kritisierten alle Kandidaten die Partei und die Sowjetgesellschaft, einige gingen sogar bis zur Kritik des Systems.»
    PUGO (lettischer KP-Chef) «Im Baltikum erreichten die Volksfronten, was sie wollten: eine nationalistische Umkehrung des August 1940, als die baltischen Republiken freiwillig um die Aufnahme in die UdSSR baten.»
    Gorbatschows Taktik, mit der er praktisch Elemente des Mehrparteiensystems in die Monopolstruktur der KP-Herrschaft einschmuggelte, erwies sich als erfolgreich, zumal der Kongress als verfassunggebende Versammlung einberufen wurde. Der Parteichef wurde zum Vorsitzenden desObersten Sowjets (später zum Präsidenten der UdSSR) gewählt – zum ersten Mal durfte ein zweiter Kandidat aufgestellt werden. Gegen Gorbatschow kandidierte der Ingenieur Alexander Obolenskij, der aber nur ganz wenige Stimmen erhielt. Die Sitzungen des Kongresses wurden direkt im Fernsehen übertragen. So wurden Millionen von Bürgern zum ersten Mal live Zeugen einer politischen Konfrontation. Als die oppositionelle Minderheit eine sogenannte Interregionale Gruppe der Volksdeputierten bildete, verschärfte sich die Debatte. Andrej Sacharow trat in der Verfassungsdebatte als Vertreter dieser Fraktion auf, griff den Vorsitzenden Gorbatschow direkt an und forderte die Begrenzung seiner persönlichen Befugnisse. Das Akademiemitglied sprach sichtlich aufgeregt, geriet mehrmals ins Stocken – er war wirklich kein großer Rhetoriker. Seine Rede wurde von der, wie man damals sagte, «aggressiv gehorsamen Mehrheit» im Saal ausgepfiffen. Seine Grundidee griff der politische Führer der parlamentarischen Opposition, Boris Jelzin, auf, indem er auf dem Zweiten Kongress der Volksdeputierten im Dezember die Streichung der «führenden Rolle der Partei» aus der Verfassung verlangte. Sacharow erlitt nach einer heftigen Debatte einen Herzinfarkt und starb am selben Tag, am 14. Dezember 1989, während einer Straßendemonstration.
D AS B LUTBAD VON T IFLIS
    In seiner Rede auf dem Kongress der Volksdeputierten forderte der populäre Lyriker Jewgenij Jewtuschenko unter anderem ein Gesetz gegen Hassreden und Beleidigung «selbst der winzigsten» nationalen Minderheit im Lande. Damit reagierte er auf die weitere Verschärfung der nationalen Gegensätze vor allem in der Kaukasusregion. Wie nicht anders zu erwarten, griffen die Konflikte auch auf Georgien über. Am 4. April organisierte die nationale Opposition in Tiflis eine Kundgebung für die Unabhängigkeit des Landes.
    Die Demonstrationen setzten sich in den nächsten Tagen fort, und zwar unter radikalen antirussischen Losungen. Auch seitens der Demonstranten kam es gegenüber den Ordnungskräften zu Handgreiflichkeiten. Dennoch war die Überreaktion der von Moskau geschickten Militäreinheiten in der Nacht vom 8. auf den 9. April unverkennbar. Sie griffen die im Stadtzentrum eingeschlossene Menschenmenge mit Gummiknüppelnund Infanteriespaten an und setzten

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